Wenn ein Trauma im Nervensystem festhängt

Somatic Experiencing Weinheim

„Die Zeit heilt alle Wunden“ ist ein altes Sprichwort. Und wie so oft ist an den geflügelten Wörtern et was dran. Die meisten Verletzungen – sowohl körperliche als auch seelische – verblassen tatsächlich im Laufe der Jahre. Aber nicht alle. Es gibt Situationen, die in unserem Nervensystem gespeichert werden und selbst Jahrzehnte nach dem Ereignis mit unverminderter Sprengkraft in unserer Seele präsent sind. Ein kleiner Auslöser reicht, und wir sind emotional wieder mitten in der Katastrophe von damals. Wir sprechen dann von einem Trauma oder einer Posttraumatischen Belastungsstörung.

Wie kommt es dazu, dass ein Ereignis sich so in unsere Seele brennt, dass wir sehr viel später noch darunter leiden? Und was kann man tun, um die Spätfolgen solcher Traumata zu heilen?

Der Biologe, Physiker und Psychologe Dr. Peter A. Levine hat hierzu ein Erklärungsmodell entwickelt. Sein Lebenswerk wurde im Oktober 2010 in Kalifornien mit dem Lifetime Achievement Award der Amerikanischen Vereinigung für Körperpsychotherapie gewürdigt.

Somatic Experiencing® (ugs. körperliches Erleben) ist ein ganzheitlicher Ansatz zur Auflösung von Traumata. Sein Fundament ist eine therapeutische Grundhaltung, die sich ganz wesentlich von der Basis anderen Therapierichtungen unterscheidet: Der traumatisierte Mensch ist nicht krank. Er ist verletzt.

Dr. Levine hat sich im Laufe seiner Forschungsarbeit intensiv mit Tieren und ihren natürlichen Verhaltensweisen beschäftigt. In freier Wildbahn sind sie immer wieder lebensbedrohlichen Situationen ausgesetzt, geraten unversehens in Gefahr. Sie erholen sich in der Regel recht schnell und ohne psychotherapeutische Hilfe davon. Flucht, Kampf oder Totstellreflex sind biologische Reaktionen, die sich im Laufe der Jahrtausende für die meisten Spezies sehr bewährt haben, so auch für den Menschen.

Biologische Reaktionen

Das autonome Nervensystem reagiert unvermittelt mit den geeigneten Maßnahmen, die unseren Körper auf die angemessene Reaktion vorbereiten. Nach einer kurzen Schreckphase des Zusammenzuckens, orientieren wir uns mit unseren Sinnen, ob tatsächlich eine Bedrohung vorliegt. Der für die Anspannung verantwortliche Teil des Nervensystems (Sympathikus) übernimmt die Regie: Die Pupillen weiten sich, die Muskeln stehen unter Spannung, Stresshormone werden ausgeschüttet, damit die maximale Kraft zur Verfügung steht, um eine Bedrohung abzuwenden. Immunsystem und Verdauung haben im Moment akuter Lebensbedrohung keine Priorität, daher werden diese Funktionen vorübergehend heruntergefahren. Auch der analytische Verstand hat Sendepause.

Würden wir in der akuten Situation abwägen, ob der Säbelzahntiger wohl schon gefrühstückt hat oder uns mit Vor- und Nachteilen von Flucht oder Kampf intellektuell auseinandersetzen, wären wir längst ausgestorben. Schnelligkeit und Fokus sind also lebensnotwendige Kriterien. Daher ist es äußerst sinnvoll, wenn ursprüngliche Teile des Gehirns bei Lebensgefahr blitzschnell und mit aller Macht unser Tun steuern.

Ist die potenziell tödliche Situation überstanden, entlädt sich die Energie, die sich im Nervensystem aufgebaut hatte z. B. in Form von Bewegung, als Zittern, Zucken oder Gähnen. Das kann man eindrücklich im Tierreich beobachten und auch bei Menschen, wenn sie Gelegenheit dazu haben. Dauert die Bedrohung an, wird eine Situation mit überwältigender Angst, Wut oder Trauer als ausweglos empfunden, werden wir an der Entladung des Nervensystems gehindert oder dürfen wir nicht in unserem eigenen Tempo aus der Schreckstarre herauskommen, können sich Trauma-Nachwirkungen auf vielfältige Weise manifestieren.

Wir können in jeder Phase der oben beschriebenen Reaktion „stecken bleiben“. Dann ist beispielsweise die Orientierung ein Dauerzustand und die Wahrnehmung ist permanent überwach. Alles wird als mögliche Bedrohung erlebt. Bleiben wir im Kampf-Modus hängen, kommt es möglicherweise zu Schwitz-Attacken, erhöhtem Muskeltonus oder Bluthochdruck. Finden wir aus dem Totstellreflex nicht mehr heraus, fühlen wir uns womöglich wie ohnmächtig gefangen und haben einer Grundhaltung von „Ich kann nicht“, die uns unser Alltagsleben oder Teile davon zur unerträglichen Last macht.

Vermeidung als Lösungsversuch

Wenn wir als Erwachsene ein Trauma erleben, kennen wir das Vorher und erleben das Danach als Veränderung. Je früher sich das betreffende Erlebnis in unsere Biografie reiht, desto perfekter arrangieren wir unser Leben darum herum und nehmen mannigfaltige Einschränkungen mitunter als völlig normal wahr. Da Trauma bedeutet, dass wir vollkommen überfordert waren mit einer Situation, die emotional hochgradig elektrisch gewesen ist, werden wir unbewusst alles tun, um ähnliche Zustände in Zukunft zu meiden. Das breite Feld der so genannten Bindungsstörungen gewinnt hier einen wertvollen Ansatzpunkt.

Potenziell traumatisierend sind viele Erlebnisse, angefangen von der Geburt, über Stürzte, Unfälle, Verletzungen, medizinische Eingriffe, persönliche Verluste, Vernachlässigung und vieles mehr. Auch die Diagnose einer schweren Erkrankung und das Erleben von Ausgeliefertsein z. B. bei Operationen etc. sind dazu geeignet. Es muss nicht unbedingt die Vergewaltigung, der Raubüberfall, der Missbrauch oder die Misshandlung sein – was manchmal gleichbedeutend mit dem Wort „Trauma“ angesehen wird.

Zahlreiche sogenannte psychische Störungen und auch einige körperliche Beschwerden können mit den Nachwirkungen einer traumatisierenden Lebenserfahrung in Zusammenhang stehen. Diesen Bezug herzustellen, rettet so manchem Patienten die Lebensqualität. Voraussetzung ist, dass ein erfahrener und kompetenter Therapeut mit der Situation sensibel umzugehen weiß. Leider kommt es oft im Rahmen einer Psychotherapie zu Re-Traumatisierungen. Der Patient erlebt in aller Heftigkeit erneut die überwältigenden Gefühle von damals. Entgegen anderen Theorien ist nach dem Ansatz von Peter A. Levine damit keine Heilung zu bewirken, dass der Patient sich schonungslos mit dem Gewesenen konfrontiert und nochmal knöcheltief durch den alten Sumpf watet.

Somatic Experiencing in der Praxis

Vielmehr erreicht man Heilung, wenn man die im Nervensystem gebundenen Energien befreit, indem man z. B. unterbrochene Handlungsmuster vollendet. Dabei beobachtet der Therapeut sehr genau Minimal-Bewegungen des Patienten und lässt diese möglicherweise in Zeitlupe ausführen, während er diesen körperlichen Prozess psychotherapeutisch begleitet.

Zwei wichtige Komponenten im Somatic Experiencing (SE) sind das Pendulieren und das Titrieren. Wir können davon ausgehen, dass jeder Traumatisierte auch Ressourcen (Fähigkeiten) entwickelt haben muss, die ihm seinerzeit das Überleben trotz Trauma-Situation ermöglicht haben. Diese zu entdecken, zu stärken und beim Auftreten von Trauma-Gefühlen gezielt einzusetzen ist eine Strategie beim SE. Der Patient erlebt das willentliche Hin und Her (Pendulieren) zwischen den Gemütszuständen der Traumanachwirkung und dem entspannten Zustand, den er mithilfe seiner eigenen Ressourcen erreicht, als Selbstermächtigung. Oft sind Menschen überrascht, dass sie selber etwas wirksam dazu beitragen können, um aus den Trauma-Gefühlen herauszufinden. Wird doch schon der leiseste Hauch solcher Gefühle meist durch Vermeidungsverhalten zum Selbstschutz konsequent unterdrückt.

Selbstverständlich springt der Therapeut nicht mit dem Patienten emotional direkt in das fragliche Ereignis hinein. Er arbeitet mit den Gefühlen, Körperempfindungen, Verhaltensweisen, Gedanken und Bildern, die sich im Hier und Jetzt zeigen, und zwar in kleinsten Dosen. Jedes Mal löst sich etwas von der Energieladung im Nervensystem auf und entlastet so auch die Über- oder Unterkopplung von körperlichen und seelischen Reaktionen auf die eigentliche Katastrophe.

Nicht wissen müssen

Sehr entlastend für die Patienten ist oft, dass man mit SE sogar arbeiten kann, ohne dass Patient und Therapeut von den betreffenden Ereignissen wissen müssen. Die Orientierung an den aktuellen Gefühlen und Körperempfindungen erspart mitunter beiden das Erzählen der Erlebnisse zu Beginn der Behandlung. Für manche Menschen ist es auch hilfreich, wenn sie das Gewesene endlich mal loswerden dürfen und Verständnis und Empathie für ihre Qualen erhalten. Dann kann es notwendig sein, Tempo herauszunehmen, Erklärungen einzuflechten oder sogar kurzzeitig vom Thema abzulenken, um den Prozess therapeutisch zu steuern und Re-Traumatisierungen zu vermeiden.

Im SE kommen einige Methoden zum Einsatz, die sich schon lange in anderen psychotherapeutischen Richtungen bewährt haben. Instrumente aus dem Neurolinguistischen Programmieren, die ich von der Modernen Hypnotherapie her kannte, habe ich dort wieder entdeckt. Wir finden zu meiner Freude auch Übungen aus der sanften Japanischen Heilkunst des Jin Shin Jyutsu im SE.

Therapeuten für Somatic Experiencing durchlaufen eine dreijährigen Ausbildung. In diesem Artikel kann natürlich nur ein kleiner Teil des reichen Wissensschatzes angedeutet werden über die Vorgänge im Nervensystem und deren mögliche Auswirkungen im Falle eines Traumas. Wählen Sie den Therapeuten stets mit Kopf und Herz. Klären Sie seine fachliche Qualifikation und spüren Sie nach, ob Sie sich bei diesem Menschen gut aufgehoben fühlen.

Text und Bild: Petra Weiß
Erstveröffentlichung: Signal 2013/2 im Haug Verlag, Stuttgart

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert