Dieser Beitrag verschafft Ihnen einen Überblick über verschiedene Arten von Grenzen. Er erklärt, warum manche Menschen anfälliger für Grenzverletzungen sind als andere. Und gibt Anregungen, wie man typgerecht mit Grenzüberschreitungen umgehen kann. Sie erfahren, was Sie grundsätzlich tun können, um Ihre Wahrnehmung der eigenen Grenzen zu schärfen und diese besser zu wahren.
Der Text wird in drei gut verdaulichen Portionen erscheinen:
Teil 1: Gesunde Grenzen setzen – Überblick. Beispiele räumliche und zeitliche Grenzen, vom typgerechten Umgang und vom gerechten Umgang mit den Typen
Teil 2: Gesunde Grenzen setzen – Die Frage nach dem Warum. Wer ist anfälliger als andere, Blick in die Elemente-Verteilung und die Typenzugehörigkeit
Teil 3: Gesunde Grenzen setzen – Praktische Tipps. Bachblüten, Jin Shin Jyutsu Griffe, Visualisierungsübungen und weiterführende Methoden
Wir starten heute mit dem Überblick. Sie dürfen sich auf eine kleine Reise zu den Enneagramm-Typen freuen. Und Sie erhalten Anregungen, den Blick etwas zu weiten, was man hinsichtlich der Achtung von Grenzen erwarten darf – und was nicht.
In meiner traumatherapeutischen Praxis geht es immer wieder darum, mit (alten) Verletzungen und ihren Auswirkungen aufs Jetzt sinnvoll und erwachsen zu hantieren. Niemandem nutzt es, wenn er getriggert durch längst vergangene Situationen wie eine Furie auf andere losgeht oder im Gegenteil in Lähmung und Starre verweilt, ohne sich angemessen zur Wehr zu setzen.
Die Erscheinungsformen von Grenzverletzungen sind vielfältig. Manchmal kann man sie erst auf den zweiten Blick erkennen. Dann kommt man aus einem Gespräch und fühlt sich irgendwie bedrückt, schuldig, hilflos, wütend oder konfus. Nach einigem Nachdenken erst wird einem klar, wie unverschämt der andere über (meist persönliche) Grenzen hinweggeschritten ist. Da möchte man sich schütteln und auf den Knopf zum schnellen Rücklauf drücken, um die ganze Szene nochmal von vorn erleben zu können und ggf. direkt reagieren. Das geht leider nicht.
Was wir aber können, ist unser Auge zu schulen für Grenzverletzungen und uns mit bestimmten Methoden zu wappnen, falls es wieder einmal passiert. Davor gefeit sind wir nämlich alle nicht. Weder in der aktiven Rolle (verletzend) noch in der passiven (verletzt).
Mich persönlich hat vor vielen Jahren eine irische Hochzeitszeremonie sehr beeindruckt, in der die Rednerin sinngemäß fragte: „Wirst du deine Frau / deinen Mann verletzen?“ was von beiden Brautleuten mit „ja“ beantwortet wurde. Und darauf „Wirst du es mit Absicht tun?“, worauf ein klares „nein“ folgte.
Es ist nicht möglich, Verletzungen sicher zu vermeiden. Und schon gar nicht, wenn wir eng mit jemandem verbunden sind. Immer wieder wird es zu ungewollten Schrammen und Wunden kommen. Beziehungsweise wir werden ohne Absicht rote Knöpfe drücken, die der andere schon lange vor unserer Zeit mit sich herumschleppte. Sich dessen bewusst zu sein, ist ein guter Grundstein für gelingende Beziehungen.
„Begegnung findet an der Grenze statt“
Das ist ein beliebter psychologischer Leitspruch. Wenn wir einander als Menschen begegnen wollen, müssen wir uns an die Grenze begeben. Sich aus der Ferne freundlich zuzuwinken ist zwar „nice“, wie die jungen Leute heute sagen. In einen echten Austausch bringt uns solch distanziertes Gehabe aber selten. Wir lernen einander nicht wirklich kennen. Direkt an der Grenze muss man sich zu erkennen geben. Hier ist der Ort für Klarheit und Wahrheit. Und für Konflikt. Gute Beziehungen halten das aus, wenn beide wertschätzend kommunizieren und gegenseitiges Verständnis und Mitgefühl die innere Haltung bestimmen. Wenn das nicht der Fall ist, darf man überlegen, warum man die Beziehung überhaupt erhalten will. Den Gründen auf den Grund zu gehen, kann sehr erhellend sein.
Grenzverletzungen sind etwas Alltägliches. Sie kommen in so vielen Facetten vor, dass ich hier nur einen ganz kleinen Teil davon aufzählen kann, damit Sie das Ausmaß des Variantenreichtums erahnen. Nehmen wir die wichtigsten: räumliche Grenzen, zeitliche Grenzen, persönliche Grenzen.
Räumliche Grenzen sind uns häufig noch am einfachsten bewusst. Wenn jemand unseren Parkplatz besetzt, im Kino seinen Arm auf unsere Lehne legt oder uns mit seinem Stuhl im Teilnehmerkreis eines Seminars zu nahe rückt, spüren wir deutlich: Das war zu viel, zu nah. Geschweige denn, jemand berührt uns ohne unser Einverständnis. Die Haut ist die Barriere unsere Körpers. Der Körper ist unser Hoheitsgebiet ohne Wenn und Aber. Darüber hinaus gibt es ein mehr oder weniger gut spürbares Energiefeld mit Abstufungen.
Rund dreißig Zentimeter um den Körper herum ist der Bereich, der nur engen Vertrauten offensteht. Wer in diese Intimsphäre eindringt, ohne ausdrücklich eingeladen zu sein, muss immer mir einer Reaktion rechnen, die ihm nicht gefallen wird. Der nächste Radius ist eine Armeslänge von uns entfernt. So nah im Energiefeld stehen beispielsweise keine Fremden, die man zufällig auf einem Empfang trifft. So weit man springen kann ist eine weitere Marke des Abstands. Wer mit jemandem im Clinch ist, sollte diesen Sicherheitsabstand einhalten, um den Konflikt nicht noch weiter anzuheizen.
Allerdings werden diese Abstände je nach Kulturkreis und Mentalität unterschiedlich gehandhabt. Einige Berührungen sind so alltäglich in unseren Breiten, dass niemand erst um Erlaubnis bitten würde, z.B. der Handschlag zur Begrüßung. Gleich danach bringt man sich aber durch das Verlagern des Gewichts auf das hintere Bein und den Schwung des Oberkörpers ebenfalls nach hinten wieder auf Distanz. Zumindest, wenn man ein Gefühl für gesunde Grenzen hat. Beobachten Sie den Ablauf einmal, wenn Sie Gelegenheit haben.
Wie empfindlich räumliche Grenzen sind, sieht man daran, dass es immer wieder zu Streitigkeiten zwischen Nachbarn kommt. „Gute Zäune, gute Nachbarschaft“ ist hier eine hilfreiche Grundhaltung. Für alle Beteiligten muss glasklar sein, wo das Gebiet des einen aufhört und wo das des anderen beginnt. Grenzen gut sichtbar zu machen, ist nützlich. Einblicke in fremde Territorien zu verwehren, wirkt praktisch, psychologisch und energetisch. Übertritte wollen benannt und Unstimmigkeiten geklärt werden. Wenn das nur so einfach wäre! Dann hätten unsere Anwälte weniger zu tun.
In Deutschland ist laut Statistik jeder Dritte rechtschutzversichert. Derzeit investiert man rund 30 Euro monatlich in einer derartige Versicherung für juristische Unterstützung im Schadenfall. Und damit für die Nachtruhe. Wir reden über einen Gesamtumsatz von knapp 10 Milliarden (!) Euro pro Jahr (!). Für den Einzelnen kann das eine durchaus lohnenswerte Investition sein. Auch wenn er niemals in Verlegenheit kommt, die Versicherung in Anspruch nehmen zu müssen. Sie eröffnen die Möglichkeit, sich ohne unüberschaubares finanzielles Risiko bei Bedarf wehren zu können. Trotz „Versicherungs-Allergie“ habe ich mich für einen solchen Schutz mit Überzeugung entschieden.
So leidig wie Nachbarschaftskonflikte im Kleinen sind, so gefährlich sind sie im Großen. Kriege werden „vom Zaun gebrochen“, weil unterschiedliche Sichtweisen zu den jeweiligen Ansprüchen bestehen. Die Folgen sind schwerwiegend. Oft kommt es im Vorfeld zum Aufzeigen einer Grenze, das unbeachtet bleibt. Wer seine Grenzen mit Worten nicht verteidigen kann, resigniert entweder und lässt sich überrennen oder er greift irgendwann zu anderen Mitteln.
Typgerechte Arten der Konfliktlösung
Wie sich der Einzelne versucht durchzusetzen, liegt in seiner Persönlichkeit begründet. Es gibt ganz unterschiedliche Verhaltensmuster, die aus tiefen Schichten des Typenmusters resultieren, aus früheren Erfahrungen und daraus gebildeten Glaubenssätzen. Und natürlich aus seinem Wesenskern. Naturgegeben kennen wir zwölf archetypische Umgangsformen mit Konflikten.
Schauen Sie in Ihrem Horoskop nach, in welchem Tierkreiszeichen der Mars steht, das ist oft aufschlussreich. Steht der Planet des Kriegsgottes beispielsweise im Widder, werden Sie beherzt voranschreiten, um Ihre persönlichen Ziele zu verwirklichen, keinem Streit aus dem Weg gehen und dabei kann es durchaus mal etwas poltern. Sie neigen dazu, im Alleingang Tatsachen zu schaffen. Danach klärt sich die Luft und Entspannung ist möglich. Falls Sie nicht zu viel Porzellan zerbrochen haben. Steht Ihr Mars in den Zwillingen, so ist das Gespräch Ihr bevorzugter Weg der Klärung von Konflikten. Sie werden bemüht sein, verschiedene Standpunkte einzunehmen und um Verständnis ringen. Mit Mars in den Fischen hingegen werden Sie Ihre Ziele durch Rücksichtnahme und Anpassung erreichen. Das sind nur drei Beispiele, die Ihnen die Vielfalt menschlichen Handelns ins Bewusstsein rufen wollen. So facettenreich ist unser Umgang mit Grenzen.
Interessant kann auch sein, in welchem Lebensbereich die kriegerische Energie des Mars sich entfalten will. Mars im 7. Haus garantiert Auseinandersetzungen in den engen Beziehungen. Im 6. Haus werden geschäftliche Verbindungen zum Austragen von Konflikten genutzt oder der Körper ist ein Kriegsschauplatz. Nur um zwei Beispiele zu nennen. Mit einer solchen Konstellation dürfen Sie nicht erwarten, eine allzeit friedliche Beziehung zu führen oder am Arbeitsplatz von Konflikten unbehelligt zu bleiben. Betrachten Sie diese Spielfelder als „Bühne“. In diesem Klassenzimmer werden Sie Ihre Lektionen erhalten und hoffentlich eines Tages meistern. Sich dagegenzustemmen, kostet nur Energie. Seien Sie darauf vorbereitet und lernen Sie, damit umzugehen.
Was soll man nun jemandem raten, der den Mars im 7. Haus hat und das ausgerechnet im Krebs. Der Krebs geht seitlich. Er wird nicht konfrontativ. Alle gängigen Kommunikationsstrategien tun so, als wären wir alle gleich und für jeden sei dasselbe Vorgehen passend. Das ist es nicht. Wollen wir einen Menschen mit diesem Wesenszug dazu motivieren, wie ein Widder direkt in den Konflikt zu springen oder wie ein Zwilling den Dialog zu suchen, wird das nicht fruchten. Es ist ihm nicht gemäß. Er wird die Dinge auf seine Art regeln müssen. Und das darf er auch. Liebevolles Mitgefühl und Verbundenheit werden Krebs-artige Wege aus dem Konflikt sein.
Ein bisschen ähnlich begründen andere Typologien die Unterschiede, z.B. die Temperamente oder die Elemente oder das Enneagramm. Sie müssen sich nicht auf die Sternendeutung einlassen, wenn Sie sich mit Typenmustern befassen wollen. Sie ist halt ausgesprochen praktisch, weil man einfach im Horoskop nachschauen kann. In anderen Typologien müssen Sie die Zuordnung selbst herausfinden, das Risiko für Fehldeutungen und Selbstbetrug ist groß.
Einen sich selbst gemäßen Umgang mit Grenzverletzungen zu finden, ist die Grundlage für gute Lösungen.
Ebenfalls in Betracht ziehen dürfen Sie, welchem Typenmuster der andere zugehörig ist. Schade, dass wir in der Regel nicht wissen, wie das Geburtshoroskop unseres Chefs oder Nachbarn ausschaut und es macht auch einen merkwürdigen Eindruck, danach zu fragen. Also greifen wir auf eine andere Typologie zurück: das Enneagramm. Mit seinen neun Verhaltensmustern ist es nicht so feingliedrig wie die Astrologie, aber es hat einen entscheidenden Vorteil – die verlässliche Dynamik. Das ausgefeilte Konzept ausführlich zu beschreiben, wäre hier unpassend. Sie finden mehrere Beiträge von mir zum Enneagramm und eine ganze Reihe von Büchern, wenn Sie das Thema vertiefen wollen.
Wenn das Du in Ihren Betrachtungen eine bedeutende Rolle spielt, was für Menschen mit ausgeprägtem Harmoniebedürfnis oder Verständigungswillen der Fall sein dürfte, dann lohnt sich ein Blick in das Enneagramm. Ich will Ihnen den Nutzen anhand eines ganz alltäglichen Beispiels verdeutlichen: eine Verabredung im Café. Ihre Freundin kommt zu spät. Wie reagieren Sie in Hinblick auf das Typenmuster des Gegenübers?
Ein Beispiel für Grenzüberschreitung aus dem echten Leben
Bevor wir in die einzelnen Typenmuster einsteigen, habe ich ein paar allgemeine Tipps für Sie, die sich praktisch sehr bewährt haben, falls Sie darunter leiden, dass Sie auf andere Menschen warten müssen.
Richten Sie sich so ein, dass Ihnen das Warten möglichst wenig Ungemacht bereitet. Ich nehme ins Café grundsätzlich ein spannendes Buch mit. Tipp: Warten Sie nur so lange, wie Sie wohlgelaunt warten können. Dann gehen Sie. Bei manchen sind das 15 Minuten, bei anderen 2 Stunden. Und die Dauer kann von Tag zu Tag variieren. Betrachten Sie das Ereignis im Gesamtzusammenhang: Kommt der andere ständig zu spät? Ist er generell ein bisschen verpeilt? Dann kann man mit etwas Humor und Toleranz darüber hinwegsehen. Oder muss man ihm Machtspielchen unterstellen? Dann ist das ein Fall für klare Regeln, die konsequent eingehalten werden.
Oft hilft es, den Enneagramm-Typ zu erkennen. Jeder Typ kommt einmal zu spät. EINSern ist es hochnotpeinlich, wenn sie trotz bester Planung nicht pünktlich sind. Sie werden sich entschuldigen und Besserung geloben. Es sei denn, sie wollen den anderen abstrafen. Sie kommen auch später, wenn sie die Uhrzeit der Einladung für unanständig halten. Oder die ganze Veranstaltung sabotieren möchten. Sogar Rache kommt als Motiv in Betracht, nämlich, wenn sie vorher oft genug versetzt worden sind. Dann ist der EINSer aber schon sehr aus seiner Balance. Eher wird er besonders pünktlich erscheinen, um ein gutes Beispiel abzugeben.
ZWEIer kommen häufig zu spät, weil sie immer irgendwo die Welt retten. Sie sind in der Regel überlastet und seeeehr beschäftigt. Ihr Helfer-Image ist ihnen wichtig. Sie opfern sich gut sichtbar auf. Für ihr Zuspätkommen erwarten sie deshalb Applaus und keine Rüge. Andernfalls sind sie vor den Kopf gestoßen und fühlen sich unverstanden. Wo sie doch immer nur Gutes wollen… Dieser Typ neigt mehr als alle anderen zur Grenzlosigkeit sich und anderen gegenüber. Und es fehlt leider aufgrund des Märtyrertums an Einsicht. Demut wäre die Lösung. Die bringen Sie einer ZWEI aber nicht bei, nur weil Sie gerne hätten, dass jemand pünktlich ist.
ZWEIer reagieren auf die Beziehungsebene: Sagen Sie ihnen, dass Sie sich unbehaglich fühlen, während Sie warten. Dass Sie natürlich nichts unterstellen wollen, sich aber schon fragen, welche Bedeutung das Treffen für die ZWEI hat.
DREIer kommen zu spät, weil sie wichtig sind. Wie unbedeutend wäre ihre Existenz, wenn sie einfach so zur rechten Zeit in einem Café erscheinen könnten? Sie kommen auf dem heißen Reifen angefahren, sind stets in Eile und haben gleich noch etwas zu erledigen. WENN sie sich entschuldigen, dann schieben sie die Verantwortung für ihr Zuspätkommen auf andere. Der Idiot, der ihnen den Parkplatz weggeschnappt hat, so dass sie mehrfach ums Karree fahren mussten, der unerwartete Anrufer, der sie ins Gespräch verwickelt hat, u.s.w. Er weiß und ich weiß, dass er übertreibt, schwindelt oder Ausflüchte sucht. Ein „oh, das war natürlich schlimm“ beendet meist die fruchtlose Debatte. Wenn er weiß, dass Sie nach 15 Minuten zuverlässig weg sind, wird er sein Verhalten ändern – falls ihm an den Treffen liegt.
Für die Menschen vom Typenmuster VIER gehört es zum „großen Auftritt“ verspätet zu erscheinen. Dieses Verhalten sichert ihnen Aufmerksamkeit. Es ist unter keinen Umständen abzuerziehen, wie die EINSer oft meinen, wenn sie mit VIERen zusammenleben. Man kann damit auf zweierlei Weise verfahren: Machen Sie der VIER eine Szene – Sie wird zufrieden sein. Oder ignorieren Sie den Fauxpas – dann wird die VIER sich ein anderes Drama einfallen lassen. Ich tendiere dazu, das Drama ein klein bisschen zu steuern. Also ignoriere ich völlig das Zuspätkommen und betone, wie froh ich bin, dass meine Freundin jetzt da ist. (Generell eine gute Strategie) Und tatsächlich ist das auch so. Ich mag die VIERer nämlich. Dann lenke ich das Gespräch auf ein anderes Thema und eröffne somit eine neue Bühne für die VIER. Bevor sie sich selbst eine aussucht, die für mich noch unangenehmer ist.
Mit dem Zuspätkommen von FÜNFern habe ich wenig Erfahrung. Der Wissenschaftler-Typ hat selten Verabredungen im Café. In der Praxis sehe ich ihn fast nie, weil Psychologie und alles, was mit Gefühlen zu tun hat, ihm suspekt ist. Was man sagen kann: FÜNFen bleiben gerne unauffällig. Sich in der Vorlesung nach deren Beginn in den Saal zu schleichen bereitet ihnen Stress. Sie werden versuchen, das zu vermeiden. Sollte ein FÜNFer Freund Sie warten lassen, ist das sicher keine Absicht. Bleiben Sie maximal sachlich und vereinbaren Sie fürs nächste Mal ein verbindliches Vorgehen, z.B. dass er anruft, wenn es mehr als 15 Minuten später wird.
Wenn der SECHSer die Uhrzeit vergisst, kann man das ganz anders bewerten als bei den vorher genannten Typen: Er hält sich und sein Erscheinen grundsätzlich nicht für sooo wichtig in der Welt. In der Regel wird er versuchen, rechtzeitig zu kommen, um nicht anzuecken, um sich einen guten Platz zu sichern. Oft stehen die Interessen des anderen im Vordergrund. Er wird beispielsweise pünktlich sein, wenn er weiß, dass es dem Gastgeber wichtig ist. Empfehlenswert ist die Argumentation „Ich freue mich wirklich auf unsere Treffen und jede Minuten davon ist mir kostbar“.
SIEBENer sind nicht pünktlich, vielleicht mal aus Versehen. Das muss man nicht persönlich nehmen. Sie sind die Schmetterlinge unter den Typen. Hans und Hannah Dampf in allen Gassen. Erziehungspotenzial gleich Null. Freunden Sie sich damit an, wenn Sie mit so jemandem befreundet sein wollen. Oder lassen Sie es, sich zu verabreden. Hier klappen spontane Treffen eh am Besten.
ACHTer sind Machtmenschen. Sie werden mitunter prüfen, wie weit sie gehen können. Bieten Sie der ACHT die Stirn. Das fördert ihren Respekt. Seien Sie nicht kleinlich, aber lassen Sie größere Verstöße nicht einfach durchgehen. Tatsachen schaffen, verstehen ACHTer am Besten. Argumentieren Sie nicht mit Verletzlichkeit. Das wird als Schwäche ausgelegt. Rücksichtnahme ist keine der besonderen Stärken einer ACHT. Mein Tipp: Bestellen Sie sich schon mal einen leckeren Aperitif und flirten Sie mit dem Ober bis der ACHTer erscheint. Fangen Sie im Zweifel an zu essen bevor er kommt. Bleiben Sie locker, aber passen Sie sich nicht seinem Rhythmus an.
NEUNer gehen selten vor die Tür. Es lohnt sich ja doch nicht. Wenn sie tatsächlich eine Verabredung eingehen, haben sie recht wenig Übung darin. Mit etwas Glück hilft ihnen ein EINSer -Flügel beim Pünktlichsein. NEUNer verschlafen einfach so geplante Verabredungen. Das ist nicht böse gemeint. Sie reagieren mit Trotz auf Zurechtweisungen.
Mein Tipp: Lernen Sie von der NEUN, sich in Sachen Prinzipien etwas zu entspannen. Stellen Sie sich vor, es gäbe gar keine Uhr. Oder Sie wären in der Türkei im Urlaub. Ob der Dolmuz kommt oder nicht, weiß man nie. Und wenn, dann ist Freude die angemessene Emotion.
Wir haben die Reaktion auf Grenzverletzungen anhand des Alltagsbeispiels durchdekliniert. Die Erkenntnisse dürfen Sie auf andere Situationen übertragen. Wie Sie reagieren, hängt einerseits von Ihnen ab und andererseits tun Sie gut daran, das Gegenüber ebenfalls zu berücksichtigen.
Grenzverletzung als Mittel zum Zweck?
Warum ist es so wichtig, den Motiven des anderen mit Offenheit und Toleranz zu begegnen? Wenn er nur eine gute Absicht hatte, reicht das? Heiligt etwa der Zweck die Mittel? Darf man also Schlechtes tun, um Gutes zu bewirken? Nein. Das darf man nicht. In meinem Menschenbild haben die Leute in der Regel eine gute Absicht. Außer der kleine Prozentsatz an Psychopathen und pathologischen Narzissten. Sie haben sich für das Böse entschieden. Die anderen meinen es im Grunde gut. Wir alle haben Werte, die bestimmen, was für uns wichtig ist. Manchen der schwachen Charaktere fällt es schwer, ihren eigenen Überzeugungen zu folgen. Sie leben an sich vorbei. Traurig ist das.
Der Deutsche Philosoph Immanuel Kant meinte schon im 19. Jahrhundert, dass man den Mut besitzen solle, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, dass es ein Zeichen der Mündigkeit sei, eben nicht den bequemen Anleitungen der Autoritäten hinterherzulaufen und dass der durch eigene Überlegungen gebildete freie Wille des Menschen Voraussetzung für ein Leben in Würde sei. Dem habe ich nicht das Geringste hinzuzufügen. Vor 250 Jahren war bereits alles Wesentliche über diese tiefgreifenden Zusammenhänge gesagt.
Doch oft ist es nicht die Handlung selbst, die unseren Unmut weckt, sondern die Bedeutung, die wir ihr beimessen. Wie wir eine Aussage oder eine Handlung interpretieren, trägt entscheidend dazu bei, welche Emotionen sie bei uns auslöst. Ansonsten neigen wir alle dazu, die Welt durch unsere Brille zu sehen, bzw. durch das Prisma unseres eigenen Typenmusters. Meine Beispiele waren ein bisschen ausführlicher, damit Sie sich einen Rundum-Eindruck verschaffen können, eine Panorama-Aufnahme sozusagen. Sich der eigenen Interpretationen bewusst zu werden und sie von den sachlich beobachteten Fakten zu unterscheiden ist unverzichtbar, wenn wir uns als Menschheitsfamilie weiterentwickeln und miteinander in Frieden leben wollen.
Berücksichtigen Sie auch immer, wer gerade spricht. Meine Weltsicht ist natürlich durch meinen eigenen Typus geprägt. Mich interessiert das Weiterkommen in der persönlichen Entwicklung, die Verbundenheit mit allem, auch und insbesondere mit den Menschen. Beziehungen stehen im Mittelpunkt meiner Aufmerksamkeit, daher betrachte ich die Dinge in diesem Licht. Ich will Bewusstsein fördern, um Einzigartigkeit zu würdigen. Meiner Überzeugung nach ist es möglich und erstrebenswert, sich als Individuum und gleichzeitig verbunden zu erleben. Autonomie innerhalb der Gemeinschaft. Daher versuche ich immer, mehrere Perspektiven gleichzeitig im Blick zu haben. In der Psychologie nennen wir das eine systemische Sichtweise.
Nun haben Sie einen kleinen Ausflug in die Welt der Grenzverletzungen gewagt. Wie ist es Ihnen damit ergangen? Konnte ich Sie ein bisschen anregen, über Ihre Sichtweisen oder sogar über Ihr Verhalten nachzudenken? Freuen Sie sich auf Teil 2 des Beitrags. Melden Sie sich für meine Newsletter an oder abonnieren Sie meinen Telegram-Kanal. So bleiben wir in Verbindung.
Text: Petra Weiß
Foto: pexels / bernahanim DANKE SCHÖN
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