Ein erweiterter Blickwinkel auf Demenz

Petra Weiß Heilpraktikerin Weinheim psychologische Beratung Psychotherapie Demenz

Über Demenz sind schon viele Fachartikel erschienen. Das Thema bewegt Familien und Psychotherapeuten seit längerem. Meine Beobachtungen in der Praxis und im privaten Umfeld sowie meine Überlegungen und Erkenntnisse, will ich gerne mit Ihnen teilen. Aus dem medizinischen Blickwinkel heraus haben Sie vermutlich schon einiges gelesen. Das wiederhole ich hier nicht. Mir geht es um die Sinnhaftigkeit des Geschehens aus einer größeren Perspektive.

Warum ereilt uns in unserer Generation dieses Schicksal mit einer solchen Häufigkeit? Was können wir daraus lernen? Und müssen wir befürchten, später selbst zum Opfer solcher Umstände zu werden?

Ich bin Baujahr 1970, viele meiner Freunde und Patienten sind zwischen 1960 und 1975 geboren. Ihre Eltern haben den Krieg im Kindesalter erlebt und wurden schwer traumatisiert. Dass sie später ein halbwegs normales Leben führen konnten, heißt nicht, dass es ihnen seelisch gut ging.

Betrachten wir die Umstände, unter denen sie groß wurden, dann leuchtet ein, dass man sich an vieles lieber nicht entsinnen möchte. Meiner Überzeugung nach bearbeitet unsere Seele die Erlebnisse in umgekehrter Reihenfolge: erst das soeben Erlebte und dann immer weiter in die Vergangenheit hinein. Gegen Ende des Lebens verstoffwechseln wir dieser Ansicht nach die Erlebnisse vom Anfang.

Es gibt aber Ereignisse, die sich sehr schlecht verarbeiten lassen. Für diese Fälle hat die Natur uns mit der Möglichkeit des Vergessens gesegnet. Bei schweren Traumata treten Amnesien häufig auf. Das konkrete Erlebnis, die kompletten Umstände oder sogar größere Zeitabschnitte fallen ins Dunkel. Das Verdrängen hat seine Berechtigung. Wir erinnern uns nur an das, was wir zu diesem Zeitpunkt verkraften können. Manchmal fehlen ganze Jahre der Rückschau.

In meiner psychologischen Sprechstunde habe ich mit Menschen gearbeitet, die können nur deshalb so scheinbar normal leben, weil sie bestimmte Stationen ihrer Biographie im Alltag gar nicht präsent haben. Während der produktiven Jahre mit beruflichen Erfordernissen, Familiengründung und sozialem Engagement ist das womöglich gar nicht anders denkbar. Bei einer Demenz im Alter hingegen könnte man geradezu den Eindruck gewinnen, der Fokus der Aufmerksamkeit verengt sich immer weiter in Richtung der frühen Erfahrungen. Bis der Betreffende gar keine andere Chance mehr hat, als endlich hinzuschauen, weil alles andere Stück für Stück dem Vergessen anheimfällt.

Auch die Ursachen liegen im Dunkeln

Über die Ursachen von Demenz wird viel spekuliert. Und einiges mag zutreffend sein. Studien dürfen hierbei wie überall kritisch hinterfragt werden. Insbesondere wenn die angebotene Lösung dann von der Pharmaindustrie kommt. Vorsichtshalber würde ich lieber prüfen, ob genau diese für einige der Symptome verantwortlich ist. Studieren Sie die Beipackzettel der Medikamente, die sich über die Jahre angesammelt haben. Kaum ein Hausarzt setzt ja irgendwann einmal eine Arznei wieder ab. Checken Sie die Begleiterscheinungen von Untersuchungen und medizinischen Anwendungen ganz genau. Richten Sie Ihr Augenmerk auf Schwer- und Leichtmetalle. Dafür gibt es Prüfverfahren und Ausleitungsmöglichkeiten. Wir hatten in unserer Familie einen Fall von schwerer Bleivergiftung, der zu einer Jahrzehntelangen Demenz führte. Mehr will ich an dieser Stelle nicht schreiben. Das Thema würde einen eigenen Beitrag rechtfertigen. Ich beschränke mich im Weiteren lieber auf mein Metier.

Aus psychologischer Sicht sind mir alle angeblichen Ursachen suspekt, die nach dem „Selber-schuld-Prinzip“ den Patienten und seine Lebensführung als Hauptgrund für die Erkrankung nennen. Als ob ein bisschen mehr Kreuzworträtsel, etwas Bewegung oder die regelmäßig Einnahme von Gingko-Präparaten das Problem von Grund auf lösen würden. Wenn es so einfach wäre, hätten wir wohl kaum 1,8 Millionen Betroffene hierzulande (Quelle: Deutsche Alzheimer Gesellschaft e.V.). Verfallen Sie bitte nicht in eine solche Erlösungsphantasie und lasten Sie Ihren Anverwandten deren Malheur auch noch schuldhaft an. Nur damit Sie selbst in der Illusion leben können, mit ein paar Stunden Seniorensport und den Wundermitteln der Pflanzenheilkunde bliebe Ihnen dieses Los verlässlich erspart.

Zusätzlich zu dem beidseitigen Stress der alltäglichen Herausforderungen werden Sie dann nämlich den Betroffenen auch noch böse, weil diese sich ja nicht wirksam vor der Erkrankung geschützt haben. Frauen haben erfahrungsgemäß oft die Phantasie, ihre Männer gingen sorglos mit ihrem Körper und Ihrem Geist um und seien daher selbst schuld, wenn sie an Demenz oder etwas anderem erkrankten. Wir können das nicht wissen. Ja, es gibt Vermutungen und Wahrscheinlichkeiten. Aber niemand hat eine Kristallkugel und kann sagen, wie sich die Dinge entwickeln werden unter diesen oder jenen Voraussetzungen.

Ein Gedankenspiel soll trotzdem erlaubt sein: Falls es so leicht wäre, durch Gymnastik und Phytotherapie der Demenz zu entkommen, WARUM macht der Betreffende das nicht einfach? Dafür hat er aller Wahrscheinlichkeit nach Gründe, die sich Ihnen nicht auf den ersten Blick erschließen – und ihm selbst womöglich auch nicht. Mit oberflächlichen Erklärungen, gut gemeinten Empfehlungen oder gar druckvollen Vorwürfen ist niemandem gedient. Dann muss man in der Tiefe forschen (wollen). Das ist nicht zu jedem Zeitpunkt angebracht und für manche in diesem Leben auch nicht vorgesehen. Wer sind wir, dass wir uns anmaßen, anderer Leute Entwicklung beurteilen oder steuern zu wollen?!

Self fullfilling prophecy

Im Gegensatz zur leichtfertigen Erklärungsfindung mit Prophylaxe-Garantie starren Sie bitte nicht ständig auf Ihr Erinnerungsvermögen in der Erwartung, dass unausweichlich die „normale Altersdemenz“ auf Sie zukommen wird. Nicht jede Zerstreutheit ist von Dauer. Es gibt Lebenssituationen, da ist es üblich, etwas aus der Spur zu sein. Das legt sich wieder. Wenn wir dann ständig danach schielen, wie das Damokles-Schwert einer Alzheimer Erkrankung über uns hängt, erzeugen wir vielleicht sogar eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Bitte machen Sie sich nicht verrückt. Unter Stress sind unsere kognitiven Fähigkeiten eingeschränkt, egal, in welchem Alter.

Der Anteil der alten Menschen, die an Demenz leiden, liegt bei rund 10 %. Diese Statistik belegt, dass 90 % nicht betroffen sind! Das ist doch eine gute Nachricht. Beschließen Sie, zu diesen 90 % zu gehören. Ihre Chancen stehen gut. Und mutmaßlich besser je weiter Ihre Geburt vom letzten Krieg entfernt lag. Auch Ihre persönliche Entwicklung und Ihr Umgang mit Ihren Emotionen kann etwas zu Ihrer Gesunderhaltung beitragen. Wie das? Dazu muss ich etwas weiter ausholen.

Hirnforscher wollen herausgefunden haben, es handle sich bei der Demenz um ein rein körperliches Problem: Das zentrale Nervensystem sei durch degenerative Prozesse so beschädigt, dass es zunehmend sein Funktion verliert. Wie erklärt sich dann aber das Phänomen plötzlicher Geistesklarheit, von dem in Zusammenhang mit Demenz immer wieder berichtet wird? Kurz vor ihrem Ableben, aber nicht ausschließlich dann, sprechen manche Patienten wieder ganz normal, erkennen ihre Angehörigen und erscheinen völlig gesund. Wir haben wenig Ahnung von dem, was in unserem Körper und unserem Geist wirklich geschieht. Deshalb sind unsere Erklärungen unzureichend und werden dem Einzelnen selten gerecht.

Die Suche nach dem Sinn

Weiten wir also unseren Blick einmal. In der Naturheilkunde und speziell in der Psychosomatik hat es sich bewährt, vom „Warum?“ zum „Wozu?“ zu wechseln. Welchen Nutzen hat die Krankheit? Wohin führt sie uns in unserer Entwicklung? Und wie dient sie dem ganzen System?

Die erste These lautet also: Manche Demenz-Kranke vergessen nach und nach das Aktuelle, weil das Erlebte zu Beginn ihres Lebens kaum zu verarbeiten ist. Dann ist die Krankheit ein Schutz vor überwältigenden Gefühlen oder eine schrittweise Hinführung auf eine wirklich schwierige Aufgabe zu.

Wenn wir nicht in der Lage sind, uns belastenden Erlebnissen von früher zuzuwenden, ist die Befürchtung gerechtfertigt, dass die noch einmal durchlebte Erinnerung unsere psychischen Kapazitäten übersteigt. Die Lösung liegt eventuell in einer guten Vorarbeit. Wir können lernen, den Schrecken in zunächst kleinen und später wachsenden Dosen zu verdauen. Alternativ dazu können wir uns zeit unseres Lebens auch ablenken. Das ist legitim. Sie haben die Wahl. Sie können mit gutem Gewissen im Hamsterrad weiterlaufen, um bestmöglich zu funktionieren. Kümmern Sie sich allerdings beizeiten um Ihr seelisches Wohl, um Ihre spirituelle Entwicklung, um die Regulation Ihres Nervensystems und um die Reflexion Ihrer Erlebnisse, dann sind damit Bewusstsseinsprozesse verbunden, die Ihr ganzes Menschsein sinnvoller gestalten können. Ohne Gewähr, auf diese Weise eine Erkrankung sicher abwenden zu können. Wir sind nicht Gott. Unser Schicksal können wir zwar mitgestalten, aber nicht in jedem Aspekt frei darüber bestimmen.

Es braucht nicht in jedem Fall eine Psychotherapie. Wägen Sie ab, wann Sie sich Unterstützung oder Hilfe holen und in welcher Form. Bleiben Sie wachsam gegenüber dem Triggern von traumatischen Erfahrungen. Falls Sie von Gefühlen übermannt werden oder wenn Sie umgekehrt emotional abschalten, ist Vorsicht angebracht. Fangen Sie bitte keineswegs mit Ihrer schweren Kindheit an (die meisten Traumatisierten wiegeln übrigens ab: Nein, so schlimm sei es ja gar nicht gewesen…), sondern nehmen Sie sich eine frischere Erfahrung vor, z.B. den Streit mit Ihrem Nachbarn, eine Meinungsverschiedenheit am Arbeitsplatz, etc. Auf der Stress-Skala darf das Event ruhig weiter unten stehen. Beginnen Sie nicht mit einem schweren Verlust wie einem Todesfall oder einer Scheidung.

Beleuchten Sie das Erlebnis aus verschiedenen Blickwinkeln, beobachten Sie Ihre Emotionen und körperlichen Empfindungen, besprechen Sie Ihre Erfahrungen mit einem Freund oder Ihrem Partner. Bewegen Sie die Gedanken ruhig ein bisschen in sich hin und her.

Und üben Sie, auch wieder in andere Gedankengänge zu kommen. Während die dauerhafte Verdrängung Risiken und Nebenwirkungen hat, ist phasenweise Ablenkung nicht nur erlaubt, sondern ausdrücklich erwünscht. Sie brauchen mindestens ein Hobby, das Sie mit Freude erfüllt und das Sie im Idealfall mit Leidenschaft verfolgen. Wenden Sie sich diesem bewusst zu, wenn Sie bemerken, dass die Seelenarbeit zu viel für Sie wird.

Falls Sie noch keine Freizeitbeschäftigung gefunden haben: Gehen Sie in die Natur, beobachten Sie Tiere und Pflanzen. Betrachten Sie ein schönes Bild, hören Sie Musik, genießen Sie den Duft einer Blume oder den Geschmack Ihrer Lieblingsspeise, erkunden Sie mit Ihren Händen, wie sich verschiedene Oberflächenstrukturen anfühlen. Als Achtsamkeit bezeichnen wir solche Übungen heute gerne. Sie bringen uns ganz ins Hier und Jetzt. Eine Atemübung erfüllt denselben Zweck.

Für all das braucht es nicht viel Zeit und auch keine anderen Menschen. Das können Sie ganz alleine für sich tun. Sie müsse nicht jeden meiner Tipps umsetzen: Wählen Sie nach Belieben, was Ihnen zusagt, und probieren Sie etwas davon aus. Nicht verbissen, sondern spielerisch.

Systemische Zusammenhänge

Meine zweite These lautet: Vielleicht gibt es systemische Gründe für die Demenz. Mehrere Fragestellung können hierzu sinnvoll sein. Und nicht alle werden zutreffen. Beispielhaft schauen wir uns eine kleine Auswahl an:

Soll in der Familie irgendetwas vergessen werden? Gab es z.B. eine schwere Schuld, etwas, das vertuscht werden soll oder musste, wird ein Familienmitglied ausgeschlossen, indem man einfach nicht mehr an ihn oder sie denkt?

Der Ausschluss aus dem Bewusstsein kann vielerlei Gründe haben. Familienaufstellungen bringen sie ans Licht. Dabei zeigt sich immer wieder: Verstorbene Kinder, sei es durch Fehlgeburt, Abtreibung oder frühen Tod, werden manchmal vergessen. Solch ein Schicksal ist für die Eltern (und oft auch für die Geschwister) kaum zu verkraften, gerät durch Verdrängung aus dem Blick und wird daher erfahrungsgemäß häufig unterschätzt. Dann ist es hilfreich, das verlorene Kind ins Bewusstsein der Familie zurückzubringen. Man kann eine Kerze anzünden, dem Kind einen Namen geben oder ein Bild aufstellen, falls möglich. Darüber reden hilft. Das kann aber auch sehr schmerzliche Empfindungen an die Oberfläche bringen. Ich empfehle, sich bei Bedarf geeignete Hilfe zu suchen. Sie sind nicht allein.

Heilsamer Perspektivenwechsel

Ein weiterer und ganz anderer systemischer Zusammenhang führt uns in eine spirituelle Dimension, die des Ausgleichs und der Polarität. These Nummer drei: Die Demenz ist eine Reprise eines früheren Themas in einer anderen Rolle. Was heißt das?

Gerne verdeutliche ich das Gemeinte anhand eines Fallbeispiels: Eine Frau musste aufgrund äußerer Umstände sehr früh ihr Kind in Pflege geben. Als dementer Mensch wird nun sie selbst von genau diesem Kind oder einem Geschwister in Pflege gegeben. Sie erfährt am eigenen Leib, wie es sich anfühlt, wenn man weggegeben wird und erlebt diese Situation heute aus der genau umgekehrten Perspektive wie damals.

Nehmen wir an, wir seien auf diesem Planeten, um möglichst vielfältige Erfahrungen zu sammeln, dann wäre das sinnvoll. Vielleicht haben Sie in anderen Zusammenhängen schon erfahren, wie lehrreich es sein kann, sich in einer anderen Rolle zu erleben, z.B. jetzt als Eltern und früher als Kind. Durch so einen Rollenwechsel entwickeln wir neue Sichtweisen und bestenfalls Mitgefühl und Verständnis – sowohl für uns früher als Kind als auch für unsere Eltern, die damals in unserer Position waren, sowie für das Kind von heute.

Eine solche Rundumschau durch die Brille der Einzelnen ist ein Segen für die Persönlichkeitsentwicklung. Sie fördert insbesondere das Vergeben, was eine große Erleichterung für alle Beteiligten ist. Zur Vergebung gehört neben der Bereitschaft loszulassen vor allem das Mitgefühl. Zusätzlich Verständnis zu haben, vereinfacht die Sache aber ungemein.

Späte Entwicklungshilfe

Und noch ein systemischer Aspekt drängt sich mir auf, meine vierte und zunächst letzte These: Die Demenz der Eltern dient der Entwicklung der Kinder. Bei der Beobachtung aus der Ferne erscheint es mir manchmal, als sei das die letzte Chance, sich aus einer emotionalen Abhängigkeit zu befreien, seinem eigenen Willen und seinen Überzeugungen zu folgen, um endlich erwachsen zu werden.

Wer seine Eltern verliert, während er innerlich noch ein Kind ist, hat ein riesen Problem. Wir brauchen in der emotionalen Ausnahmesituation gut ausgebildete erwachsene Anteile in unserer Persönlichkeit, um sie bestehen zu können. Vater und Mutter sterben in der Regel vor uns. Das ist der normale Gang der Dinge, wie es so lapidar heißt. Das Ereignis ist aber in jedem Fall erschütternd. Auch für erwachsene Kinder, die gelernt haben, ihre kindlichen Anteile zu trösten, gut für sie zu sorgen, sie bei Bedarf angemessen zurechtzuweisen und ihnen nicht den Regiestuhl in ihrem Leben zu überlassen. Das ist es, was man mit einem dementen Elternteil schmerzvoll erlernt, wenn man es vorher noch nicht kann. Unsere dementen Eltern geben uns reichlich Gelegenheit dazu. Besser spät als nie.

Meine Empfehlung, wenn Sie diesen Schritt (wie viele andere, Sie befinden sich in bester Gesellschaft) noch nicht gegangen sind: Nehmen Sie die Lektion bewusst an. Wie das aussehen könnte? „Ja, ich will mich von den Erwartungen und Vorstellungen lösen, die nicht meine eigenen sind. Ich werde ertragen, wenn meine Mutter wütend, traurig oder ängstlich ist. Ihre Gefühlswelt liegt in ihrer Verantwortung. Ich verabschiede mich von der kindlichen Allmachtsphantasie, dafür sorgen zu können, dass es Mutti immer gut geht. Natürlich habe ich Mitgefühl für ihr Leid und Verständnis für ihre Lage. Aber das bestimmt nicht mein Handeln. Ich werde Entscheidungen treffen, die meinen Überzeugungen entsprechen, was jetzt für alle Beteiligten das Beste ist. Meine Verantwortung gilt dem ganzen System.“

(Selbstverständlich lässt sich der obige Text für den Vater entsprechend abwandeln.)

Zu diesem System gehören Sie übrigens auch. Leben Sie Ihr Leben. Niemand sonst kann das für Sie tun. Ihrem Angehörigen etwas zu essen machen, ihn waschen und versorgen, das können auch andere Menschen. Pflegekräfte sind darin ausgebildet und haben sich freiwillig für diesen Beruf entschieden. Was niemand so kann wie Sie: Ihre Mutter oder Ihren Vater lieben wie ein Sohn oder eine Tochter. Machen Sie die gemeinsam verbrachten Stunden zur Qualitätszeit. Verzweifeln Sie nicht an dem, was nicht mehr geht, richten Sie Ihr Augenmerk auf das, was möglich ist.

Es ist nicht leicht, mit einem dementen Menschen umzugehen. Bitte verstehen Sie meinen Beitrag nicht als Bagatellisierungsversuch. Er will Ihnen vielmehr Mut machen, Ihr Schicksal anzunehmen und darin neben all den Schwierigkeiten einen Sinn zu erkennen. Damit Sie – seelisch und körperlich – gesund bleiben. Wie der Salutogenese-Forscher Antonowsky bereits vor Jahrzehnten herausgefunden hat, ist der Glaube an die Sinnhaftigkeit dessen, was uns widerfährt, eine wichtige Voraussetzung für unsere Gesunderhaltung oder Genesung.

Eine ganzheitliche, systemische oder spirituelle Sichtweise einzunehmen, dient in diesem Sinne direkt der Vorbeugung – unter anderem auch von Demenz. Unter diesem erweiterten Blickwinkel müssen wir uns von düsteren Prognosen nicht einschüchtern lassen. Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft e.V. meint hochrechnen zu können, wie viele Demenz-Kranke es angeblich in 25 Jahren geben wird. Wie überaus arrogant. Und gar nicht hilfreich. Solche Prognosen treffen selten zu. Dafür sind die Zusammenhänge viel zu komplex. Das Leben lässt sich nicht vorhersehen – weder das einzelne noch das der Menschheitsfamilie als Ganzes.

Mir persönlich gefällt die Idee der morphogenetischen Felder, wie sie von dem Forscher und Harvard-Professor Rupert Sheldrake konzeptioniert wurde. Wenn es ein „wissendes Feld“ gibt, dass mit all unseren Erfahrungen gefüttert ist, dann wird mit jedem, der sich um das Auflösen der generationsübergreifenden Traumata oder Verstrickungen in seiner Familie kümmert, das Feld für alle entlastet. Und die folgenden Generationen werden es leichter haben. Die Erkenntnisse sammeln sich wie Mosaiksteinchen. Insofern ist das häufig empfohlene Puzzeln tatsächlich eine gute Maßnahme, um Demenz vorzubeugen. Aber eben ganz anders als gedacht.

Einen Tipp aus einer vollkommen anderen Weltsicht möchte ich zum Schluss noch anfügen: Das Denken entspringt dem LUFT-Element. Demenz zeigt LUFT-Element in Not. Das ist nicht verwunderlich. Junge Menschen haben bedingt durch ihr Alter viel davon und später nimmt es immer weiter ab. Alles was unser Gefühl von Freiheit stärkt, unsere Kreativität fördert, uns Heiterkeit und Freude spendet, dient dem LUFT-Element. Kulturelle Veranstaltungen, künstlerisches Tun, frische Luft, die Farben Gelb und Weiß, aber auch eine bunte Vielfalt, das Verspeisen von Kohlenhydraten und vieles mehr kann zur BeLÜFTung beitragen.

Grundsätzlich ist jede Entscheidungsfreiheit ein Ausdruck von LUFT-Element. Räumen Sie Betroffenen verschiedene Wahlmöglichkeiten ein, woauchimmer es möglich ist. Dadurch werden Traumareaktivierungen vermieden oder geglättet: Denn bei traumatischen Situationen erkennen wir in der Regel keinen Ausweg. Sie erscheinen alternativlos. Auswahl ist das Gegenteil von Ohnmacht. Da schließt sich der Kreis. Im Kleinen etwas bewirken zu können, mag banal erscheinen. Aber bitte erinnern Sie sich daran: Oft sind es die kleinen Dinge, die eine unerwartet große Wirkung zeigen.

Text: Petra Weiß
Foto: pexels / kindelmedia

2 Gedanken zu „Ein erweiterter Blickwinkel auf Demenz

  1. Ein sehr aufrichtiger, Mut machender Artikel. Einiges kenne ich schon, aber es bestärkt einem, dass man den betreffenden Menschen richtig begegnet.

    1. Herzlichen Dank für Ihre freundliche und differenzierte Rückmeldung. Es freut mich, dass der Text Sie im Umgang mit Demenz-kranken Menschen bestärkt hat. Ich wünsche Ihnen alles Liebe, viel Kraft und Gottes Segen.

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