Grenzverletzung reloaded – wer sind die Täter?

Petra Weiß Psychotherapie Weinheim

Wer besonders gefährdet ist, dass seine Grenzen überschritten werden, darüber haben Sie in meinem Beitrag Anfälligkeit für Grenzverletzungen gelesen. Heute beschäftigen wir uns mit der Frage, was eigentlich Menschen zu Grenzverletzungen bringt, wer also prädestiniert dafür ist, zum „Täter“ in Sachen Grenze zu werden. Dabei gibt es ein paar interessante Überschneidungen zu den „Opfern“. Und tatsächlich finden sich viele von uns in beiden Rollen wieder.

Wenn jemand kein Gefühl für Grenzen hat, wird er in beiden Richtungen ein merkwürdiges Verhalten entwickeln: Er wird weder seine eigenen noch die Grenzen der anderen wahr- oder ernst nehmen. Häufig liegt die Ursache in einer traumatischen Erfahrung, die einen fundamentalen Bruch darstellen. Oder in einer ganzen Reihe solcher Erlebnisse. Dann sprechen wir von einer Komplextraumatisierung.

Wie kommt das?

Ein Mensch, der erlebt, dass sein Nein keine Auswirkung hat, dass er rein gar nichts tun kann, um seinen Willen in der Welt wirksam werden zu lassen, der hört damit auf, seine Bedürfnisse zu empfinden und drückt sie weg. Es ist nämlich viel zu schmerzhaft, dauernd mitzukriegen, dass es niemanden interessiert, was wir wollen und was nicht. Daher schalten wir das Empfinden so gut wir können ab. Das ist eine Form der sogenannten Dissoziation: Die normalen Bauchgefühle von Lust und Unlust, werden einfach nicht mehr zur Kenntnis genommen. Wir trennen unser körperliches Erleben von unseren Emotionen und Gedanken. Der Körper meldet zwar etwas. Aber die Psyche verneint diese Wahrnehmung.

Dass wir nicht immer sofort unseren leiblichen Bedürfnissen nachgeben müssen, hat etwas mit der gesunden Impulskontrolle zu tun. Wir müssen nicht ad hoc Pipi, wenn die Blase drückt. Gott sei Dank. So schaffen wir es bis zur nächsten Toilette, auch wenn wir gerade zum Stadtbummel unterwegs sind. Dass wir aber für lange Zeit unsere Grundbedürfnisse unterdrücken müssen oder ganz kurz auf erschütternde Weise davon abgehalten werden, ihnen zu folgen, dafür ist unser Nervensystem nicht gemacht. Wenn die Situation vorbei ist, kann daher das Abspalten der Bedürfnisse als Dauerzustand bleiben. Oder es wird in bestimmten Situationen getriggert.

Wenn ich zum Beispiel geschimpft werde, wie früher von einem despotischen Vater, dann kann es sein, dass ich plötzlich in einen Zustand gerate, in dem ich nicht mal mehr spüre, dass ich Hunger habe oder dass mir kalt ist.

Von Geburt an kein Gefühl für Bedürfnisse und Grenzen

Eine ganze Generation ist durch die schwarze Pädagogik von Johanna Haarer davon abgehalten worden, ein gesundes Verhältnis zu den eigenen Bedürfnissen zu entwickeln. Ich hatte darüber an anderer Stelle ausführlicher geschrieben. Hier will ich nur noch einmal wiederholen, dass der maßgebliche Erziehungsratgeber aus der NS-Zeit die jungen Mütter dazu anhielt, die Bedürfnisse ihrer Kinder nicht bzw. nicht zeitnah zu erfüllen. Und wer meint, diese Grundsätze wären mit den Nazis 1945 verschwunden, der irrt. Bis in meine Jugendzeit in den 1970ern herrschte in vielen Familien die Meinung, dass man Kinder ja nicht zu Tyrannen erziehen sollte – vorbei an ganz normalen kindlichen Bedürfnissen. So entstehen transgenerationale Traumata: Eine Generation gibt das Trauma an die nächste weiter. Durch eine fehlgeleitete Erziehung direkt oder indirekt durch das Sanktionieren von eigentlich ganz normalem Verhalten bis ins Erwachsenenalter hinein.

Wohl dem, der sich mit zunehmender Reife unabhängig macht von erzieherischen Eingriffen durch andere Erwachsene oder Autoritätspersonen. Leider gelingt das oft nicht auf Anhieb. Schon weil wir uns der Unangemessenheit erzieherischer Maßnahmen an Erwachsenen meist gar nicht bewusst sind. So und da haben wir den Schlamassel: Wenn wir nicht begriffen haben, dass niemand das Recht hat, an uns herumzuerziehen, dann glauben wir umgekehrt auch, wir dürften andere nach unseren Vorstellungen formen. Auf diese Weise werden wir zu Grenzverletzungen verleitet.

Konventionelle Grenzüberschreitungen

Nun ist es in unserer Gesellschaft üblich geworden, dass wir uns von anderen sagen lassen, wie wir zu leben, was wir zu essen und sogar wie wir zu sprechen haben. Normal – im Sinne von förderlich für eine seelische Reifung – ist das nicht. Zuerst bräuchten wir einen Radar für Grenzüberschreitungen. Ein Bewusstsein dafür, was angemessen ist. Und die innere Freiheit, uns an Empfehlungen zu halten oder eben nicht.

Wer mit sich und seinen Grenzen im Reinen ist, der weist Grenzverletzungen entschieden zurück oder es juckt ihn nicht, salopp ausgedrückt. Er kann differenzieren, an welcher Stelle und auf welche Weise sein STOP-Schild erforderlich und sinnvoll ist. Auf jeden Fall wird es ihn nicht den Nachtschlaf rauben, wenn jemand seinen Parkplatz besetzt, ihn mit einem aufdringlichen Parfüm belästigt oder sich nicht an Verabredungen hält. Er wird gemäß seinem eigenen Charakter darauf reagieren und die Lage bereinigen. So oder so. Manchmal kann das heißen, eine Beziehung zu beenden. Oder einen Rechtsanwalt einzuschalten. Oder klare Worte zu sprechen. Und je nach eigener Verfassung, Vorgeschichte und Gegenüber kann er mit etwas Esprit und Humor eine heikle Situation rasch zum Besten wenden.

Damit haben wir die erste Gruppe definiert, die absichtlich oder völlig arglos immer wieder über Grenzen schreitet: (komplex-) Traumatisierte, die ihr Trauma (unbewusst) in der Rolle des Täters wiederholen.

Im Übrigen gibt uns grenzüberschreitendes Verhalten ein Gefühl von Macht. Nehmen wir an, genau das hätte uns als Kind gefehlt, dann wäre es ja durchaus nachvollziehbar. Lieber erlebt man sich als Täter denn als Opfer. Und oft genug tritt dann eine Opfer-Täter-Umkehr ein. Und man erlebt sich als Opfer, obwohl man selbst gerade in der Täter-Rolle ist. Beide Rollen sind in uns vereint, das fühlt sich aber gar nicht gut an! Diese Wippschaukel von Macht und Ohnmacht ist einer gesunden Beziehung nicht dienlich – weder zu sich selbst noch zu anderen. Daher ist es wichtig, sich als selbstwirksam zu erleben, ohne dass man anderer Leute Grenzen zertrampelt.

Sie sehen: Jeder von uns kann zum Grenzverletzer werden, ob er es bemerkt oder nicht.

Motive für Grenzverletzung nach Enneagramm-Typen

Wir kommen zurück auf das Enneagramm, um zu sehen, ob bestimmte Typenmuster zur Grenzverletzung ermutigen. In der Tat kann jeder Typ ein solches Verhalten entwickeln. Da wollen wir niemanden bevorzugen oder vernachlässigen. Die Motive und Erscheinungsformen sind unterschiedlich:

Der EINSer kann besser als jeder andere entscheiden, was richtig und was falsch ist. Diese Illusion bestimmt sein Selbstbild. Daher wird er Grenzen verletzen in dem Bestreben, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Und die Menschen zu besseren Menschen. Wenn sein Bewusstseinsprozess noch nicht so weit fortgeschritten ist, wird er vielleicht in der Haltung handeln, der Zweck heilige die Mittel – was er niemals tut. Er neigt dazu, mit gutem Gewissen Böses zu tun, um Gutes zu erreichen. Konventionen spielen für ihn eine große Rolle „Das tut man nicht“ ist das beliebteste Argument des REFORMERS.

Menschen vom Typus ZWEI werden Grenzen verletzen, weil sie denken, dadurch jemandem zu helfen. Im Zweifel meinen sie, sie wüssten besser, was gut für den anderen ist als er selbst. So laufen sie mit einem heroischen Selbstbild herum, während sie anderer Leute Grenzen munter überschreiten und fühlen sich moralisch oft überlegen. „Du wirst schon sehen: Das tut Dir auch gut.“ hört man vom HELFER-Typus häufig.

Im Typenmuster DREI braucht es das Gefühl moralischer Überlegenheit oder alleiniger Rechtschaffenheit nicht. Es ist genug, ein Ziel im Blick zu haben. Argumente aller Typenmuster werden von der DREI situativ eingesetzt. Je nachdem, was am erfolgversprechendsten erscheint und dem Image am zuträglichsten ist. Die wahren Beweggründe und was hinter den Kulissen geschieht, bleiben außen vor. Verdrehung der Tatsachen aus Imagegründen, erlebt man beim ERFOLGSORIENTIERTEN im Sinne von „Schau doch, wie erfolgreich mein Eingreifen auch für Dich gewesen ist!“ Am Ende will er Applaus und steht als Held da.

Wenn eine VIER Grenzen überschreitet, hat das oft etwas naiv anmutendes. So als könne doch niemand erahnen, dass die Freundin beleidigt sein würde, wenn man ihr den Freund ausspannt. Oh doch, man kann. Und man tut es auch. Denn genau auf diese Art Drama zielt ja gerade die Grenzüberschreitung der DRAMAQUEEN. Sie will etwas bewirken. Notfalls etwas Extremes. Das Erleben von emotionalen Höhen und Tiefen ist ihr Lebenselixier.

Menschen, die im Muster der FÜNF zuhause sind, vergessen ihre Manieren, wenn sie glauben, etwas besser zu wissen. Und sie wissen so viel, dass sie ganz gerne mal dem Irrtum erliegen, allwissend zu sein. So drängen sie anderen ihren Glauben, ihr Weltbild auf. Ihr Expertentum scheint über jeden Zweifel erhaben. Wer nicht ihrer Meinung ist, muss zu dumm sein, um die Wahrheit zu erkennen. Ihr größter Fallstrick ist das Überbewerten des Verstandes. Folglich nehmen sie ihre körperlichen Reaktionen nicht ernst, wenn sie sie überhaupt wahrnehmen. Wozu das führt haben wir bei den Traumafolgen gesehen. „Aber die Experten sagen doch…“ leitet Grenzüberschreitungen des FORSCHERs ein.

Der Enneagramm-SECHSer ist ein Meister der Projektion. In seinem Typenmuster ist die Verwechslung von Opfer und Täter angelegt. Es kostet ihn mehr Achtsamkeit und Bewusstsein als die anderen Menschen, sein Verhalten objektiv einzuschätzen. Oft ist er ganz bestürzt, wenn er erkennt, was er selbst zu einem Konflikt oder dessen Eskalation beigetragen hat. Zweifel sind die zweite Natur des SKEPTIKERs. Wenn jemand von etwas überzeugt ist und so eine Art innere Weisheit besitzt, die zu gefühltem Wissen führt, ist ihm das hochgradig suspekt. Ihre Grenzverletzungen finden mit der Absicht statt, Lügen aufzudecken, die sie überall wittern. Dieser Angsttyp fühlt sich ständig bedroht und will für mehr Sicherheit sorgen. Steht jemand diesem Ansinnen im Weg, kann er unerwartet rabiat werden.

Für den SIEBENer ist das Leben ein Spielplatz. Entsprechend achtlos geht er mit Verletzungen um – mit den eigenen und mit denen der anderen. Er versucht an der Oberfläche zu bleiben und lässt sich nicht auf tiefergehende Reflexionen ein. Der LEBENSHUNGRIGE schreitet nicht, er tanzt über die Grenzen hinweg. Nein, er meint es nicht böse. Das ändert aber nichts an den Auswirkungen seiner Übergriffe gegen sich selbst und gegenüber seinen Mitmenschen. Vor allem seine Unzuverlässigkeit also das Ignorieren von getroffenen Vereinbarungen, stellt die typischen Grenzverletzungen einer SIEBEN dar. Das kann den Zeitpunkt einer Verabredung betreffen, oder das Brechen eines Ehegelöbnisses.

Das Muster der ACHT fällt dem Enneagramm-Kenner als erstes ein, wenn man sich fragt, wer wohl am Wahrscheinlichsten über Grenzen hinweggeht. Der BOSS macht die Regeln – seinem eigenen Weltbild gemäß hat er das Recht dazu. Und noch schlimmer: Er selbst muss sich nicht daran halten. Wer zu empfindlich ist, den hält er für eine Memme. Dennoch ist das Aufzeigen von Grenzen niemandem gegenüber so hilfreich wie gegenüber einer ACHT. Sie wird sonst keinen Respekt entwickeln. Man wundert sich, wie sportlich dieser Typ eine Zurechtweisung wegsteckt. Wenn er weiß, wie weit er nicht gehen darf und wann Schluss ist, entsteht aus einem Konflikt überraschenderweise manchmal sogar eine aufrichtige und langlebige Freundschaft.

Die NEUN ist passiv-aggressiv. Ihre Grenzüberschreitungen springen nicht so ins Auge wie die der ACHT oder EINS. Ihr Widerstand zeigt sich nicht im Reden oder im Tun, sondern eher im Schweigen und Nicht-Tun. Die FRIEDLIEBENDEN verweigern sich still und ohne Diskussion. Damit sind sie schwer zu packen. Sie machen ja nichts Böses. Aber sie machen eben oft auch nicht das Gute, was man als normal von ihnen erwarten kann. Oder was konkret vereinbart ist. Aus Harmoniebedürfnis und um Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen, sagen sie „jaja“ – und machen dann grad, was sie wollen. Um des lieben Friedens willen gehen sie auch oft über ihre eigenen Grenzen hinweg, ohne zu bemerken, dass dadurch gar kein echter Frieden entstehen kann.

Notorische Grenzverletzer

Wer sich aus Mangel an Empathie um Grenzen anderer überhaupt nicht schert, sind Psychopathen und Narzissten. Von ihnen darf man nicht erwarten, dass sie sich an irgendwelche Vereinbarungen halten, es sei denn, sie profitieren davon. Zu narzisstischem Missbrauch habe ich an anderer Stelle ausführlich geschrieben. Hier will ich nur noch einmal auf ein Erkennungsmerkmal von Narzissmus hinweisen, nämlich dass er auf Grenzsetzungen allergisch reagiert. Von allem nur das Beste zu erhalten, ist aus seiner tiefen Überzeugung sein Geburtsrecht. Ihm steht prinzipiell alles zu, deshalb nimmt er sich einfach was er will. Warum sollte er auf irgendwen Rücksicht nehmen?!

Wenn Sie einem Psychopathen eine Grenze aufzeigen, kann er eiskalt bleiben oder er macht Ihnen eine Szene. Die Emotionen sind allerdings gespielt. Das kann aber sehr überzeugend wirken. Der Narzisst hingegen ist echt verletzt. Aufgrund seiner narzisstischen Kränkung kann ein heiliger Zorn auf Sie herabfahren, wie Sie ihn noch nie erlebt haben. Die Reaktion muss in keinem erkennbaren Verhältnis zur Dramatik der Zurückweisung stehen. Wenn Sie nur das Stück Kuchen ablehnen, dass eine Narzisstin für Sie gebacken hat, wird die Frau, die sonst gerne mal einschenkt, tödlich beleidigt sein. Ich habe erlebt, dass mich ein Narzisst in die Hölle wünscht, weil ich die Auswirkungen seines gewalttätigen Verhaltens auf mich angesprochen habe. Jaja, die narzisstischen Täter schädigen nicht nur ihre Opfer, sie verfluchen sie auch noch. Machen Sie sich frei von solchen Energien!

Wie man einen energetischen Schutzwall gegen derlei Angriffe aufbauen kann, besprechen wir im Folgebeitrag zu diesem Artikel.

Für heute reicht die Erkenntnis, dass jeder von uns ab und an Grenzen überschreitet. Wichtig ist, dass wir uns das bewusst machen. Dass wir unser Verhalten kritisch hinterfragen, ohne uns dabei als Mensch infrage zu stellen. Wenn wir uns einmal falsch verhalten haben, sind wir kein schlechter Mensch. Wir haben nur einen Fehler gemacht.

Sprechen Sie Ihre eigenen Vergehen einfach an. Sagen Sie, dass es Ihnen leid tut. Hören Sie sich mitfühlend an, was Ihre Grenzüberschreitung beim anderen ausgelöst hat. Vielleicht möchten Sie die Aussprache mit einer Erklärung versehen. Idealerweise mit einer Begebenheit, bei der jemand auch über Ihre Grenzen getreten ist. Und wie Sie sich dabei gefühlt haben. Nicht als Gegenvorwurf oder Bagatellisierungsversuch, sondern als Schulterschluss zwischen Verletzten.

Übrigens können uns offene Klärungen von eingebildeter Schuld befreien. Es kann sich nämlich auch herausstellen, dass Ihr Gegenüber die Situation gar nicht als Grenzverletzung erlebt hat. Dann können Sie Ihr Gewissen beruhigen und müssen keine Schuldgefühle hegen – mit all den Komplikationen, die diese mit sich bringen. Auch dazu veröffentliche ich in Bälde mehr. Ein entsprechender Textbeitrag ist gerade im Entstehen.

Im nächsten Teil der Serie zu den Grenzverletzungen werden wir beleuchten, wie man sich vor Ihnen schützen kann und wie man damit umgeht, wenn sie entstanden sind. Bleiben Sie mir gewogen, auch wenn es etwas dauern kann, bis der Beitrag reift. Meine Texte speisen sich aus den Sprechstunden-Eindrücken, aus philosophischen Betrachtungen und eigenen Erfahrungen. Dieser Aufbau von praktischem Wissen erfordert mehr Zeit und Aufmerksamkeit als angelesene Kenntnisse. Aber es lohnt sich.

Text: Petra Weiß
Bild: pexels.com / cottonbro

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