Haben Sie schon einmal Schuldgefühle erlebt? Glückwunsch: Sie sind kein Psychopath. Denn die Betroffenen haben von Geburt an keinen Zugang zu solchen Emotionen. Und Sie sind auch kein Narzisst, jedenfalls kein pathologischer. Menschen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung machen gemäß ihrer eigenen Einschätzung nämlich gar keine Fehler. Daher können sie keine Schuldgefühle für irgendein Fehlverhalten entwickeln.
Voraussetzung für Schuldgefühle ist, dass eine Handlung tatsächlich oder vermeintlich zu schädlichen Konsequenzen führt. Oder dass das Unterlassen einer Handlung negative Folgen hat. Schlimmstenfalls reicht es schon, wenn ein Fehlverhalten Auswirkungen haben KÖNNTE, die aber (noch) gar nicht eingetreten sind.
Der Schweregrad einer Verfehlung oder ihrer Konsequenz steht dabei nicht unbedingt in Relation zur Ausprägung der Schuldgefühle. Emotionen sind nicht immer logisch. Heftige Schuldgefühle können uns heimsuchen, obwohl wir nur einen ganz winzigen Fehler gemacht haben. Und obgleich uns die Konsequenzen unseres Tun bei der Entscheidung, die zu der Handlung führte, gar nicht bewusst gewesen sind.
Selbst wenn die Wirkung minimal ist, können uns Schuldgefühle Tag und Nacht plagen, zu Selbstvorwürfen führen und an unserem Selbstwertgefühl nagen. Ein gesunder Narzissmus hält uns dann den Kopf über Wasser. Sonst liefen wir Gefahr, an der Erfahrung zu zerbrechen, dass etwas durch unser Zutun gründlich schiefgelaufen ist und trauten uns nie wieder etwas zu.
Unsere Schuld liegt darin, etwas falsch gemacht zu haben, das eine bestimmte Auswirkung hat. Die Weltanschauung, die den Schuldgefühlen zugrunde liegt, ist die von Ursache und Wirkung. In unserem Computer-gesteuerten Alltag könnte man meinen, das sei doch selbstverständlich. Streng genommen ist es das nicht. Wenn-dann-sonst funktioniert an Ihrem Rechner meistens ganz gut. In komplexen Systemen wie im richtigen Leben greift diese eindimensionale Reduktion nicht.
Da mag es Wahrscheinlichkeiten für Zusammenhänge geben. Sachverhalte treten parallel oder nacheinander auf. Ob das eine wirklich die Folge des anderen ist, wissen wir selten mit Sicherheit. Wir denken es uns nur.
Schuldig fühlen wir uns aber nicht für die Handlung, sondern für ihre Auswirkungen. Daher ist es notwendig, ganz genau zu beleuchten, ob das eine aus dem anderen erfolgt.
Oft verwechseln wir Schuldgefühle mit einem schlechten Gewissen. Das Gewissen hat mit unserem Wertesystem zu tun. Leben wir gegen diesen inneren Kompass, fühlt sich das ebenfalls nicht gut an. Aber es hat nichts mit den Auswirkungen der Handlungen zu tun, sondern mit ihren Motiven. Die Beweggründe für unser Tun wollen in Einklang mit unseren tiefen Überzeugungen stehen, sonst regt sich unser Gewissen und gibt uns damit wertvolle Signale.
Bestenfalls kommen wir dadurch zu uns selbst zurück und gleichen unsere Entscheidungen unseren wahren Werten immer stimmiger an. Dieser Vorgang befreit uns von aufgesetzten Werten, die durch die Erwartungen der Gesellschaft, durch kulturelle oder familiäre Prägungen bei uns gelandet sind.
Natürlich geht es mir nicht darum, dass Sie als gewissenlose Ego-Zombies durch die Gegend laufen. Ganz im Gegenteil. Unsere Selbstbewertung vom Moralismus zu lösen und stattdessen eine eigene Ethik zu entwickeln halte ich für erstrebenswert.
Wie können wir wissen, ob wir wirklich Schuld an etwas haben? Die Wahrheit ist: Das können wir nicht. Wir beobachten einen Umstand und beobachten später einen Sachverhalt. Und dann interpretieren wir einen Wirkzusammenhang in unsere Beobachtungen hinein. Diese Deutung kann stimmen – oder auch nicht.
Warum deuten wir immer wieder Vorgänge so, dass wir am Ende mit Schuldgefühlen dastehen? Was ist attraktiv daran, Schuldgefühle zu erleben? Dem liegt eine trickreiche Psychodynamik zugrunde, die ich für Sie entwirren will.
Die Idee zu diesem Beitrag kam mir bei einer Folge STAR TREK The next Generation. Es ging um eine fremde Kultur, die einem alten Götterglauben entwachsen war. Nun machten ein paar der Individuen Erfahrungen, die sie als Begegnung mit allmächtigen Wesen deuteten. Rasch fielen sie zurück in den Glauben an eine Gottheit, die über Leben und Tod entscheiden kann. In diesem Licht interpretierten sie das Geschehen. Lief etwas schief, wurde es dem Gott zugeschrieben. Man müsse ihn wohl erzürnt haben und nun sei es notwendig, ihn zu besänftigen. Das ist das Prinzip von Schuld und Sühne oder von Sünde und Opfer.
So weit hergeholt ist die Geschichte von den Drehbuchautoren nicht. Die Idee, von den Göttern für Sünden bestraft zu werden und für Wohlverhalten belohnt, findet sich in vielen Religionen. Warum gehen wir mit derartigen Unterwerfungsphantasien auch heute noch in Resonanz? Ist es nicht beängstigend, dass ein Wesen allmächtig ist?
Genau diese Eigenschaft macht einen Gott in den meisten Glaubenssystemen aus. Um dieses Gottesbild zu erhalten, wurden seit jeher theologische und philosophische Debatten geführt. Diesen will ich mich nicht anschließen. Mir geht es um die psychologische Seite des Phänomens.
Wenn es eine Wesenheit gibt, die alle Macht der Welt besitzt, und ich ihren Zorn entfachen kann, dann bewirke ich etwas bei meinem Gott. Ich habe Macht über den Mächtigen. Und wenn ich etwas tun kann, um ihn dann wieder zu besänftigen, dann steuert mein Verhalten die Reaktionen des Allmächtigen. Das verleiht mir unbegrenzte Macht.
Bin ich also schuld und werde dafür bestraft, tut das zwar weh, gibt mir aber ein Gefühl von Kontrolle über die Situation. Zugegebenermaßen ist das ein bisschen wie beim Billard über Bande gespielt, aber unsere Psyche funktioniert manchmal so. Schuldgefühle sind ein Mittel zur Selbst-Ermächtigung. Und wenn es nur darum geht, jemanden erzürnt zu haben und danach wieder besänftigt, der seinerseits große Macht ausüben kann.
Gehen wir noch einen Schritt weiter. Wenn wir uns selbst ermächtigen, indem wir uns als schuldig betrachten, was machen wir dann, indem wir jemand anders Schuld geben? Wir ermächtigen ihn. Wollen wir das?
Bei Schuldzuweisungen gilt dasselbe wie für die Übernahme von Schuld: Der Denkfehler liegt im Paradigma von Ursache und Wirkung. Wir können nicht mit Gewissheit sagen, dass der Sachverhalt, den wir als Folge der Handlung begreifen, nicht eingetreten wäre, wenn diese Person diese Handlung nicht vorgenommen hätte.
Es gibt leider – oder Gott sei Dank – keine parallelen Realitäten, in denen wir einfach mal nachschauen können, wie sich die Dinge alternativ entwickelt hätten. Vielleicht hätte eine andere Handlung derselben Person später zum gleichen Resultat geführt. Oder eine ähnliche Handlung durch jemand anders. Oder das Ergebnis der Situation wäre ohnehin eingetreten – egal, wie die Beteiligten sich verhalten hätten.
Wir können genauso wenig in der Zeit zurückspringen und ausprobieren, welcher neue Handlungsstrang sich entspinnt, wenn eine Entscheidung anders getroffen worden ist. Trotzdem spielen wir solche Phantasien in Zusammenhang mit Schuld immer wieder durch. Sie können uns den Nachtschlaf und den Seelenfrieden rauben. Dabei existieren sie nur in unserem Kopf. Sie beruhen auf dem Aberglauben der Objektivierbarkeit von Ursache und Wirkung.
Nehmen wir einmal an, wir könnten uns von dieser Haltung lösen. Wenn jemand nicht schuld ist – sagen wir am Tod eines geliebten Menschen. Dann kann er nicht über das Schicksal, in diesem Fall über Leben und Tod bestimmen. Damit ist er nicht gottgleich. Er hat nicht nur keine Schuld, sondern auch keine Allmacht. Und das ist eine gute Nachricht. Dann bleibt die Macht entweder beim Einzelnen oder bei Gott, dem Universum, den aufgestiegenen Meistern, oder woranauchimmer Sie glauben wollen. Aber nicht bei dieser Person.
In Zusammenhang mit traumatischen Erfahrungen ist diese Erkenntnis kostbar. Sie entmachtet den Täter. Er bleibt natürlich verantwortlich für seine Tat, aber der Regierungsapfel der (All-)mächtigkeit wird ihm entrissen. Damit verliert er an Bedrohlichkeit.
Vielleicht schaffen wir es sogar, uns aus sicherem (zeitlichen) Abstand, seine Perspektive anzuhören. Und unter Umständen verstehen wir seine Motive. Bestenfalls entwickeln wir Mitgefühl mit dem Menschen, der er zum Zeitpunkt der Tat gewesen ist. Das ist die hohe Kunst der Vergebung.
Bitte fühlen Sie sich nicht schuldig, wenn Sie an diesem Punkt nicht sind. Sie dürfen ruhig wütend oder verletzt oder verängstigt sein. Aber öffnen Sie sich fürs Loslassen der Vorwürfe, jemand sei schuld an den Auswirkungen, die sein Handeln auf Sie und Ihr Leben hatte oder womöglich heute noch hat. Diese Macht hat er nicht verdient.
Text: Petra Weiß
Foto: Simon Opel / pixelio.de