In der Psychotherapie war es lange verpönt, sich Glaubensfragen zuzuwenden. Und in der Tat ist diese Verbindung heikel. Einem Psychotherapeuten steht es in seiner Rolle nicht zu, sich in irgendeiner Weise missionarisch zu betätigen. Er ist ja kein Seelsorger im kirchlichen Sinne. Gleichzeitig kann aber der Glaube für einen Menschen eine wertvolle Ressource bilden, die man in der Psychotherapie nutzen kann. Einerseits. Und andererseits kann er zu allerlei Komplikationen führen, die zu psychischen Problemen beitragen. Mir ist beides schon in der Sprechstunde begegnet.
Niemand würde ernsthaft bestreiten wollen, dass es der seelischen Gesundheit dient, wenn man einen Sinn im Leben hat. Ein ganzer Zweig der klinischen Psychologie, nämlich die Logo-Therapie, beschäftigt sich genau damit. Fehlt der Zugang zum eigenen Lebenssinn, beispielsweise im Rahmen einer Depression, können mitunter sogar Selbstmord-Gedanken aufkommen. Sich dann wieder dem Leben zuzuwenden, indem man einen Sinn in der eigenen Existenz findet, ist für die Betroffenen nicht nur ein Lichtblick im Dunkel, sondern ein Wendepunkt in Richtung Genesung.
Nach schweren Schicksalsschlägen kann es heilsam sein, dem Erlebten – so schlimm es auch gewesen sein mag – im Nachhinein einen Sinn zuzuordnen. Nützlich ist hier eine Weltsicht, die menschliche Erfahrungen in den Kontext von Lernaufgaben stellt. Ganz praktisch würde man als Therapeut die positiven Veränderungen oder Erkenntnisse herausarbeiten, die zum Bewältigen der Krise beigetragen haben.
Welche bereits bekannten Fähigkeiten konnten wir schulen oder verfeinern? Welche neuen Eigenschaften haben wir an uns entdeckt? Wer kam uns zur Hilfe beigesprungen? Auf wen können wir uns in der Not wirklich verlassen? Welche Methoden waren nützlich? Was wird uns auch in Zukunft hilfreich sein? Solche Fragen dienen dem Aufarbeiten nach der akuten Phase von Turbulenzen.
Manchmal sprechen meine Patienten ihren Glauben direkt von sich aus an. Sowohl das Aufgehoben-Sein in Gott oder das Vertrauen ins Universum / in die Natur als auch Zweifel am erschütterten Weltbild können fruchtbare Themen in der Psychotherapie sein, wenn der Therapeut sich selbst mit seinen Ansichten zurücknimmt. Nicht selten entwickeln sich aus solchen Gesprächen neue Perspektiven, Zuversicht und kostbare Ressourcen wie Stabilität und Sicherheit.
Grundsätzlich bin ich für fast alle religiösen Vorstellungen offen, so lange sie dem Leben dienen. In meine Behandlung kommen zumeist Menschen, die sich einer der christlichen Kirchen verbunden fühlen oder in einer christlich geprägten Kultur aufgewachsen sind. Einige haben ganz eigene Weltanschauungen entwickelt, andere orientieren sich an asiatischen Lehren, wie dem Buddhismus oder dem Yoga. Manche fühlen sich zur Anthroposophie hingezogen, weil ihnen deren Prinzipien in der Pädagogik, Landwirtschaft oder Heilkunde einleuchten. Ich würde niemals einen Glauben abwerten.
Aus meiner Sicht haben alle Religionen und Weltanschauungen ihre Berechtigung und jeder Mensch ist frei in der Wahl seines Glaubens. Berichten kann ich nur aus den Fällen, die mir in der Praxis begegnet sind. Wenn einzelne Erlebnisse oder Glaubensfragen Gegenstand von traumatherapeutischen Sitzungen und psychologischen Beratungen waren.
Begriffsklärung
Zunächst brauchen wir Klarheit darüber, was eigentlich Spiritualität ist und wie sie sich von Esoterik unterscheidet, wann man von einem Glauben spricht und wie es sich mit der Religion verhält. Dafür finden Sie im Netz viele und teils widersprüchliche Ansichten. Für diesen Beitrag will ich mich auf folgende Definition festlegen:
Spiritualität beschreibt eine Weltanschauung, die neben der physischen, greifbaren, materiellen Welt eine geistige, nicht materielle Welt einschließt. Den Begriff würde ich sehr weit fassen. Ich ordne ihm alle Bewusstseinsprozesse zu. Insofern sind nur die Hardliner unter den Materialisten nicht spirituell.
Esoterik ist eine spirituelle Weltsicht, und zwar eine ganz spezielle. Sie beruft sich auf bestimmte Regeln, die „hermetischen Gesetze“, die zur Einordnung von Lebensrealitäten in einen spirituellen Kontext dienen. Ihr „horizontales“ Weltbild ist geprägt von Analogien, statt von Ursache-Wirkung-Zusammenhängen.
Religion ist organisierter und institutionalisierter Glaube. Sie bezieht sich immer auf einen Schöpfer oder einen Ursprung des Lebens (re-ligio). Die meisten Religionen fußen auf einer Lehre, die in „Heiligen Schriften“ festgelegt ist. Regeln zur Glaubensausübung und zur Lebensführung werden von religiösen Einrichtungen und Führern empfohlen oder vorgeschrieben.
Glaube ist eine sehr persönliche Angelegenheit. Er kann sich auf eine bestimmte Religion oder spirituelle Richtung beziehen oder Elemente aus verschiedene Glaubenssystemen umfassen. Der Glaube an Reinkarnation beispielsweise ist in mehreren Religionen zu finden und auch unabhängig von sonstigen Überzeugungen anzutreffen.
Die Begriffe werden im Alltag häufig durcheinandergebracht. So werden mit der Esoterik die Spiritualität und mit der Religion der Glaube verwechselt. Die Geschichte der Kirche hat viel zum negativen Image von Spiritualität und Religion beigetragen, was schade ist.
Die dunkle Seite der Macht
Und so ist der Glaube natürlich nicht für alle mit positiven Erfahrungen verbunden. Wie könnte es auch anders sein? Im Namen des Guten wurde schon immer auch Schlechtes verübt. Menschen mit bösartigen Absichten verstecken ihr Handeln seit Menschengedenken in mildtätigen Einrichtungen.
Skandale ziehen sich vom Mittelalter bis in die Jetztzeit durch alle Institutionen. Man denke nur an die Menschenversuche und Kindesmisshandlungen in Waisenhäusern und Heimen, an den Missbrauch in der katholischen Kirche und so zu. Aber auch kleinere Verfehlungen, wie körperliche Züchtigung oder psychische Gewalt durch Priester oder Religionslehrer haben manchmal langfristige Nachwirkungen, so dass einige Patienten mit weit über 50 Jahren noch darunter leiden.
Menschen mit Macht sind mehr als alle anderen dazu aufgerufen, achtsam mit ihrem Einfluss auf andere umzugehen. Oft geht das gut. Davon hören wir nichts in der Presse. Und leider viel zu häufig geht es schief. Nur die Spitze des Eisbergs ragt in die Öffentlichkeit.
Wenn man betrachtet, dass religiöse Vorstellungen seit jeher die Entwicklung der Menschheit begleiten, kann man erahnen, wie wichtig der Glaube für unser Bewusstsein ist. Mag sein, dass die Glaubensinhalte sich mit dem Reifegrad unsere Spezies wandeln. Daher war möglicherweise ein Altes Testament früher genau richtig und brauchte die Ergänzung durch das Neue Testament, um die Veränderungen der Zeit passend abzubilden. Was ich sagen will: Das kollektive und das persönliche Weltbild darf Veränderungen unterliegen.
Früher haben viele Eltern ihre Kinder mithilfe kirchlicher Autorität versucht zu erziehen. Und dabei die ursprünglichen Texte so ausgelegt, wie es ihrem Ansinnen am besten zupass kam. Daher sind die Erinnerungen und Vorstellungen von den Inhalten oft vage. Es hat schon einigen Patienten geholfen, die biblischen Aussagen im Wortlaut und im konkreten Zusammenhang kennenzulernen. Von mir, die nie eine Stunde Religionsunterricht genossen hat! Doch ich habe mich mit der Bibel auseinandergesetzt, die als Grundlage unserer abendländischen Kultur dient.
Schon als Schülerin war ich von den großen Weltreligionen fasziniert, die ich im überkonfessionellen Ethik-Unterricht kennenlernen durfte. Als junge Erwachsene habe ich mit Interesse die Heilige Schrift gelesen. Jedes Wort. Man muss ja wissen, welche Bilder und Mythen das Unterbewusstsein der Menschen beeinflussen, wenn man mit dem Unbewussten arbeiten will. Unbewusstes wirkt. Seine Inhalte, Ursprünge und Auswirkungen ins Bewusstsein zu bringen, ist Teil einer guten Psychotherapie und auch für seelisch Gesunde erstrebenswert.
Glaubenssätze haben wir alle
Natürlich haben Sie auch ein Weltbild, wenn Sie keinem Glaubenssystem anhängen. Die Summe Ihrer Vorstellungen vom Leben und von den Menschen macht es aus. Wir sprechen nicht ohne Grund von „Glaubenssätzen“, die tief in unserer Psyche verankert sind. Bewusst oder nicht prägen Sie unsere Wahrnehmung und unsere Wertehierarchie und damit unser Erleben. Sie haben Einfluss auf unser tägliches Handeln, auf unsere Gewohnheiten und unsere Lebensentscheidungen. Niemand geht ohne Welt- und Menschenbild durchs Leben. Nicht einmal jemand, der sich als Ungläubiger bezeichnen würde. Dieser hängt je nach Definition nur keiner Religion an bzw. glaubt nicht an eine geistige Welt außerhalb des materiell Messbaren.
Die Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross hat in ihren Interviews mit Sterbenden Leute nach ihren Blickwinkeln befragt, die sich am Rande der irdischen Existenz befanden. Ihrer Aussage nach gab es nicht einen, der am Ende nicht an irgendetwas glaubt. Je näher wir dem Tod rücken, desto dringlicher wird die Auseinandersetzung mit dem eigenen Lebenssinn, mit dem Geheimnis der geistigen Welt, woher wir kommen und wohin wir gehen. Die drei Fragen nach dem Warum, dem Woher und dem Wohin sind meiner Ansicht nach die Eckpfeiler einer erwachsenen Spiritualität.
Zu Risiken und Nebenwirkungen
Was in Krisensituationen leider häufig losbricht, ist keine erwachsene, geerdete Spiritualität, sondern eine hektische Suche nach Heilsversprechen und Erlösern. Aus diesem Grund hat die Esoterik so ein schlechtes Image. Das ist bitter, aber durchaus begründet. Ich möchte den Unterschied zwischen beiden Haltungen im Reifegrad festmachen. Esoterik hat etwas kindlich Naives. Ihr fehlt die Bodenhaftung. Jeder dahergelaufene Schönredner wird zum Guru. Er braucht nur ein paar wohlklingende Schlagworte wie Quantenheilung, Zeitqualität oder Resonanz und schwupps folgen ihm schon ein paar Jünger.
Moderne Quacksalber bedienen sich zuweilen auch der Technik. Da werden dann Frequenzen beschworen, die der Heilung dienen sollen. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich habe große Achtung vor den Errungenschaften der Frequenzmedizin. Es gibt ein paar glaubwürdige und ehrenwerte Vertreter dieser Richtung, die mit Erfindergeist und physikalischem bzw. medizinischem Know-how bemerkenswerte Gerätschaften entwickelt haben. Die Verwendung von technischen Hilfsmitteln kann ausgesprochen nützlich sein. Pfiffige Geschäftemacher locken allerdings auch gerne mit dem Nimbus der Wissenschaftlichkeit, der die Technik im Allgemeinen umgibt. Behalten Sie auf jeden Fall im Blick, ob die Behandlung oder der Apparat zu einem vernünftigen Betrag angeboten wird, ob Sie also das Preis-Leistungs-Verhältnis für angemessen und nachvollziehbar halten.
„Wenn es doch hilft?!“ könnte man ausrufen. So lange der Scharlatan nicht schadet, mag man das Geschehen noch für harmlos halten. Leider wissen diese Leute oft nicht, was sie tun. Sie halten sich selbst für fähig, jemanden zu heilen oder auf den rechten Weg zu bringen. Ich schließe gar nicht aus, dass im Einzelfall auf diese Weise schon Gutes bewirkt werden konnte. Manchmal hilft ja allein der Glaube schon. Und dagegen ist nichts einzuwenden. Bei mir in der Praxis landen hingegen Patienten, denen es gar nicht gut getan hat, sich an halbseidene Hobby-Therapeuten zu wenden.
Die Auswirkungen sind unterschiedlich. Wenn einfach nur Zeit vertan wurde, die man hätte nutzen können, um eine effektive Methode zu finden, ist das schlimm genug. Meist ist zusätzlicher Schaden entstanden. Wenn zum Beispiel die Vorgehensweise überhaupt nicht geeignet ist, dem Menschen mit seinem Problem zu helfen, aber das Gegenteil suggeriert wurde, fühlt der Patient sich schlecht. Zusätzlich zu seinem ursprünglichen Malheur hat er nun das Gefühl eines selbstverschuldeten Therapieversagens. Häufig wird der psychische Zustand verschlechtert statt verbessert, indem ein Trauma unabsichtlich getriggert wird. Es kann zu einer handfesten Angststörung kommen und im schlimmsten Fall löst man eine Psychose aus.
Von hier an wird’s gefährlich
Esospinner, die mit den Ängsten der Menschen arbeiten und ihren Reibach damit machen, dass sie jemanden mit viel Tammtamm von „Dämonen“ befreien, gehören deshalb aus meiner Sicht aus dem Verkehr gezogen. Um es gleich vorweg in aller Deutlichkeit zu sagen.
Mein spirituelles Weltbild schließt die Existenz einer geistigen Welt durchaus ein. Und wie wir täglich erleben, meinen es nicht alle Kräfte gut mit uns. Wir brauchen aber keinen Exorzisten, der uns von dem unsichtbaren Angreifer erlöst. Was für eine Macht geben wir diesen häufig psychisch selbst angeknacksten Gesellen?
Gerade kürzlich hörte ich, dass man sich nicht vor solchen „Besetzungen“ fürchten müsse, wenn man nur in der Liebe sei. Oh, mein Gott! Und wenn man einen kurzen Moment lang mal nicht in der Liebe ist? Wenn einem der Nachbar, die Kinder oder der Partner auf die Nerven gehen und man Wut oder Enttäuschung erlebt? Oder Angst? Wenn einer ganz normale menschliche Regungen verspürt? Dann ist er selbst schuld, dass die bösen Wesenheiten sich seiner bemächtigen. Solche Betrachtungen fördern ungesunde seelische Zustände, egal wie freundlich sie in die Welt gestellt werden.
Halten Patienten an ihren beängstigenden Vorstellungen fest und leiten sie gar daraus Entscheidungen ab, die sie in ihrer freien Lebensgestaltung behindern, dann ist sie überschritten: die Grenze zum religiösen Wahn. Das hat nichts mehr mit Esoterik zu tun. Und erst gar nicht mit Spiritualität. Das ist eine psychische Störung.
Wahn kann alleine für sich und in Kombination mit anderen psychischen Erkrankungen auftreten. Schizophrenien sind dafür bekannt, dass sie mit Wahnwahrnehmungen und Wahnideen einhergehen können. Aber auch im Rahmen von schweren Depressionen treten wahnhafte Vorstellungen auf, wie fixe Ideen und hartnäckige, aber völlig unangemessene Emotionen, z.B. über das eigene (eingeredete) Versagen, eine (angebliche) Schuld oder generelle Unfähigkeit und Minderwertigkeit.
Die Vorstellung von bösen Geistern, die uns heimsuchen, macht unheimlich Angst. Freilich tut sie das. In dieser fiesen Suggestion hat der Betroffene ja keinerlei Kontrolle über den eigenen Schutz vor dunklen Energien. Gruselig! Man braucht immer den skrupellosen und geschäftstüchtigen oder mutmaßlich psychisch gestörten Heiler. Halten Sie sich fern von solchen Leuten! Lösen Sie sich so schnell wie möglich aus der unseligen Abhängigkeit von Ihrem falschen Heiler, und suchen Sie ernst zu nehmende und fachkompetente Unterstützung.
Schau mal, wer da spricht!
Die „Experten“ haben sich ihr „Wissen“ in der Regel angelesen. Sie sammeln Informationen und basteln daraus ein Bild, das teilweise sogar stimmen mag. Ihre konstruierten Zusammenhänge sind oft haarsträubend und sensationsheischend. Vielleicht hilft es Ihnen, die Wortwahl auf Superlative und Emotionsauslöser zu analysieren. So könnte man den ein oder anderen Wichtigtuer entlarven. Der geneigte Leser oder Hörer will das bedauerlicherweise oft nicht. Er will ja von einem „spirituellen“ Lehrer lernen und nicht einen Hochstapler enttarnen.
Manche Gurus gründen ihre angebliche Kompetenz auf ein spirituelles Erlebnis, das sie tatsächlich hatten. Mir ist eine Frau in Erinnerung, die ich auf einem Kongress von einem dramatischen und in der Tat lebensbedrohlichen Ereignis berichten hörte. Ihr Bewusstseinsstand war dennoch nicht so, dass ich von ihr etwas über Spiritualität hätte lernen wollen. Im Gegenteil: Sie zog über ihren Ex-Mann in der Öffentlichkeit her. Das ist kein Anhaltspunkt für eine fortgeschrittene Persönlichkeitsentwicklung und wirkt auf mich alles andere als „erleuchtet“.
Dass das Bewusstsein den Körper unter bestimmten Umständen verlassen kann, ist normal und nicht eine Gabe der Auserwählten. Der biologische Schutzmechanismus ähnelt dem Dissoziieren, das wir aus der Traumatherapie kennen. Meine Mutter konnte aufgrund ihrer traumatischen Kindheitserfahrungen als Erwachsene auf Kommando im Zahnarztstuhl ihren Körper verlassen. Sie wäre aber nie auf die Idee gekommen, aus dieser Fähigkeit Profit zu schlagen, darüber Bücher zu schreiben oder sich in Interviews darzustellen.
Ein sogenanntes Nahtoderlebnis macht niemanden zum Spezialisten in Sachen geistige Welt. Das ist, wie wenn Sie schon einmal ein italienisches Eis gegessen haben und sich fortan berufen fühlen, die Menschheit über das Universum der Dolce zu belehren. Ohne diese besondere und im Einzelfall berührende Erfahrung abwerten zu wollen: Die Leute interpretieren da manchmal Sachen hinein, dass man nur staunen kann. „Konfabulieren“ nennt man in der Psychologie das Füllen von Lücken in einer Geschichte mit abstrusen Inhalten.
Echte spirituelle Erfahrungen integrieren
Gleichzeitig wäre es schade, eine spirituelle Erfahrung vorbeiziehen zu lassen, ohne ihre Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung bewusst zu erleben. Leider begegnen den meisten von uns solche Momente nur wenn Sie knapp dem Tod entronnen sind. Mit oder ohne außerkörperliche Wahrnehmung: Sich der eigenen Vergänglichkeit bewusst zu werden, kann zu weitreichenden Veränderungen in der Weltanschauung führen und das Leben vollkommen auf den Kopf stellen.
Nahtoderfahrungen sind neben ihrem Potenzial für den Bewusstseinsprozess auch dazu geeignet, Trauma zu produzieren oder zu triggern. Der Umgang damit erfordert Fingerspitzengefühl, Traumasensibilität und eine Menge psychologische Fachkenntnis verbunden mit entsprechender Berufserfahrung.
Therapeutisch muss man achtsam und behutsam beim Differenzieren zwischen Wahrnehmung und Interpretation unterscheiden helfen. Psychologen sind darin aus anderen Zusammenhängen geübt. Sie kenne das vermutlich auch, dass Sie etwas Konkretes erleben und den Sachverhalt aus einer verzerrenden Brille heraus betrachten, was zu falschen Bewertungen der Situation führt. Hinterher kann man in Ruhe die Entwicklungen nochmal mit Abstand betrachten, in einen anderen Rahmen setzen und neu bewerten. Unser täglich Brot in der Psychotherapie.
Viele Menschen fühlen sich von spirituellen Inhalten angezogen. Daran ist nichts Falsches. Nur ist nicht jeder gleichermaßen mit einer stabilen Psyche gesegnet, um sich diesen Themen – mit alle ihren teils belastenden Seitensträngen – offenherzig nähern zu können. Zu Risiken und Nebenwirkungen geben die Liebe-und-Licht-Botschafter leider keine Auskunft, während sie jedermann zum kollektiven Erwachen ermuntern.
Damit Sie bei Ihren Forschungen zur geistigen Welt mit beiden Beinen auf der Erde bleiben, machen Sie genau das: Bleiben Sie mit beiden Beinen auf der Erde. Spüren Sie Ihren Körper. Heben Sie nicht in esoterische Sphären ab. Beachten Sie Ihre naturgegebenen Anlagen. Sorgen Sie entsprechend für ERDung, wenn sie Ihnen konstitutionell oder augenblicklich fehlt. Ein Zuviel an dem Gegenspieler der ERDE in der Elemente-Balance, nämlich zu viel LUFT, führt in Hysterie und am Ende in schizophrene Zustände. Da wollen Sie nicht hin.
LUFT-Mangel bei gleichzeitigem Fehlen von ERDE kann merkwürdige Blüten treiben. Falls Sie einen Sog in Richtung Okkultismus spüren, gebieten Sie dem Trend beizeiten Einhalt. Wenden Sie sich anderen spannenden Themen zu. Füllen Sie Ihren Geiste mit praktischen Inhalten. Gleichen Sie Ihr LUFT-Element anders aus, z.B. durch ein kreatives Hobby, durch Reisen, durch Veränderungen in unkritischen Lebensbereichen, durch kulturelle Veranstaltungen, etc. Es gibt eine große Vielzahl von Möglichkeiten.
Nicht jeder muss sich zum Geistheiler oder Astrologen ausbilden lassen. In diesen Berufen ist Bodenständigkeit unentbehrlich. Neben der satten ERDung braucht es ebenso viel LUFT. Sonst hat das unerwünschte Konsequenzen für den Klienten. Und für den Anbieter der spirituellen Dienstleistung. Letztlich leidet das Image dieser Berufsstände unter den überforderten Vertretern ihrer Zunft. Menschen in Lebenskrisen zu beraten, ist kein Ponyhof.
Merkmale seriöser Heiler
Wie erkennen Sie seriöse Heiler? Formal besitzen sie die Lizenz zum Therapieren. Dazu sind sie entweder Psychologischer Psychotherapeut, Psychiater oder Heilpraktiker. Mit dieser Qualifikation ist zumindest sichergestellt, dass ein Grundwissen an psychologischen Kenntnissen vorhanden ist und man mit wachem Blick darauf achtet, dem Patienten nicht zu schaden. Andere medizinische Berufe benötigen eine Überweisung. Nicht immer ganz unberechtigt, wie ich finde.
Einige Berufe bewegen sich im Grenzbereich. Praktiker verschiedener Methoden dürfen ihre Kunst verüben, ohne die Absicht zu kurieren. Das bedeutet, sie können die Gesundheit unterstützen, dürfen Krankheiten aber nicht gezielt behandeln. Das Handlungsfeld ist automatisch eine Grauzone. Da ich selbst viele Jahre mit Jin Shin Jyutsu gearbeitet habe – als Heilpraktikerin mit der Erlaubnis zum Therapieren – kenne ich diese Szene aus der Nähe. Es gibt ganz verantwortungsvolle und heilerisch begabte Kollegen. Und es gibt Leute mit Größenphantasien, die ihre eigenen Grenzen nicht kennen. Wie in allen Berufen.
Selbstüberschätzung auf der Seite des Behandlers in Kombination mit Autoritätshörigkeit auf der Seite des Klienten ist eine giftige Mischung. Statt dem Betreffenden zu helfen, kann bei entsprechender Empfänglichkeit unbeabsichtigt ein regelrechter Wahn entstehen und gefördert werden.
Wahn hat die Eigenschaft, dass er nicht korrigierbar ist. Wie kann man sich das vorstellen? Hat jemand z.B. den Wahn, er werde von feindseligen Eichhörnchen verfolgt, nützt es nichts, dass er seinen Garten fortan per Videoaufzeichnung überwacht. Falls auf den Bildern keine Nager zu sehen sind, wird er sich etwas ausdenken, um seinen Wahn zu wahren. Beispielsweise, dass die Tiere getarnt sind, oder dass sie das verräterische Filmmaterial auf magische Weise gelöscht haben. Auf keinen Fall wird er sagen: „Na gut, dann folgen mir die Eichhörnchen halt doch nicht.“
Wenn schon so eine Vorstellung, die man bei wachem Verstand und gesundem Geist problemlos durch die Realität widerlegen könnte, schwer losgelassen wird, können Sie sich ausmalen, wie gefährlich Wahninhalte sind, deren Richtigkeit oder Falschsein man per se schon nicht nachweisen kann. Das ist die Crux bei religiösem Wahn.
Er kann sich so verfestigen, dass man den einen Wahn mit der nächsten Wahnvorstellung in Schach halten muss. Dann kommen die bösen Geister nachts nur dann nicht, wenn man irgendein bestimmtes Ritual vollzieht. So entsteht aus dem Wahn auch noch ein (zunächst scheinbar hilfreiches) Zwangsverhalten. Einen Zwang therapeutisch beheben zu wollen, ohne die zugrundeliegende Wahnvorstellung im Blick zu haben, wäre ein Kunstfehler.
Professioneller Umgang mit Ängsten
Leider ist es nicht erfolgversprechend, den Leuten ihren Wahn ausreden zu wollen. Sonst wäre es ja kein Wahn, sondern beispielsweise eine Angststörung. Wahn ist so definiert, dass er nicht durch vernünftige Einsicht oder anderslautende Erfahrungen korrigierbar ist. Zwischen Angst und Wahn zu differenzieren, ist bei der Wahl des Behandungskonzepts notwendig.
Während beim Wahn neben der Therapie einer möglichen Grunderkrankung häufig Psychopharmaka zum Einsatz kommen, ist eine Angststörung psychotherapeutisch prinzipiell gut behandelbar. Eine zentrale Rolle spielt das Bewusstsein darüber, dass die Angst zwar einerseits grundsätzlich da sein darf, ihr Ausmaß aber nicht in Relation zur tatsächlichen Gefahr steht und ihre Akutheit überbewertet wird.
Ein Fallbeispiel: Häufig treten Ängste um nahestehende Personen auf. Natürlich kann es z.B. sein, dass mein Freund einen Autounfall hat. Autounfälle kommen vor. Die Wahrscheinlichkeit ist allerdings so gering, dass ich nicht jedes Mal in Panik ausbrechen muss, wenn er das Haus verlässt. Geschweige denn ihn zu überreden versuchen sollte, dass er lieber daheimbleibt.
Mit dem praktischen Erleben, dass der Mann zurückkommt, ohne dass ihm etwas Böses widerfahren ist, schwindet üblicherweise die Angst ganz zuverlässig. Das mutige Überwinden von irrationalen Ängsten ist der Schlüssel zur Heilung.
Sind hingegen traumatische Ereignisse schuld daran, dass der Patient in der Angst hängenbleibt, dienen andere hierfür geeignete Methoden der Gesundung. In der Folge ist mitunter nicht nur die Angst vor dem Autounfall weg, sondern auch noch andere Auswirkungen des Traumas verschwinden, die man gar nicht im Fokus hatte.
Der Priester
Mir selbst sind schon einige Merkwürdigkeiten in Sprechzimmern begegnet, an denen ich Sie gerne teilhaben lasse.
Aufgrund von Beschwerden im Hals suchte ich vor ein paar Jahren einen HNO-Arzt auf. Statt einer gewissenhaften Untersuchung wollte der Mediziner wissen, ob ich für eine psychosomatische Betrachtung offen sei. Freilich bin ich das. Sodann begann er, mir seinen Glauben zu vermitteln. Ich sollte mir Videos von seinen Predigten ansehen. In meiner Verzweiflung über die gesundheitliche Situation einerseits und andererseits auch aus Neugierde schaute ich mir einige Stunden Videomaterial an. Die Botschaft war letztlich, dass ich durch meinen falschen Glauben selbst an meinem Malheur schuld bin und sich alles zum Besseren wendet, wenn ich meinen Irrtum einsehe.
Die kassenfinanzierte Sprechstunde nutzte er zu missionarischen Zwecken für seine Glaubensgemeinschaft. Das verkaufte er als Psychosomatik. Dabei verfügte der Mann nicht einmal über das einfachste psychosomatische Grundwissen, nämlich welche Körperseite dem weiblichen Prinzip, also der Mütterlichkeit zugerechnet wird und welche dem männlichen bzw. der väterlichen Seite. Er widersprach mir vehement als ich sagte, dass ich das ganz anders in Erinnerung habe als von ihm dargestellt.
Therapeutisch hat er mir von einem Antibiotikum abgeraten. Was richtig war, es lag nämlich ein Autoimmungeschehen vor. Und stattdessen eine Mundspülung mit Salzwasser empfohlen. Was meist nicht schadet, in meinem Fall aber leider schon, weil die entzündete Mundschleimhaut dadurch noch mehr gereizt wurde. Seine Diagnose, ich hätte einen Pilzbefall aufgrund der Antibiose (die ich mit seiner Zustimmung ja gar nicht durchgeführt hatte – er blieb bei dem Prinzip von Schuld meinerseits) wollte er durch einen einfachen Abstrich nicht sichern. Na, klar. Sie war ja falsch.
Zu seiner Ehrenrettung muss ich sagen: Dieselbe Fehldiagnose habe ich noch von einer weiteren Ärztin erhalten und auch meine ansonsten sehr fähige Heilpraktikerin ist demselben Irrtum aufgesessen. Der Sichtbefund schien tatsächlich irreführend zu sein.
Fortschritte dürfen erwartet werden
Wenn dann aber die Behandlung so gar nicht anschlägt, oder sogar wie in meinem Fall die Lage verschlechtert, müsste man schon mal ins Nachdenken kommen. Der Therapeut. Und auch der Patient. Das führt mich zu einem wichtigen Kriterium, nach dem Sie einen Therapeuten bewerten dürfen: den Behandlungserfolg. Das sage ich in vollem Bewusstsein, dass der Fortschritt in einer Therapie oft ein wenig Geduld braucht und immer auch vom Mitwirken des Patienten abhängt. Dass manchmal äußere Umstände eine Heilung verhindern oder es systemische Blockaden geben kann. Und einiges mehr. Dennoch ist es wichtig, dass Sie Fortschritte sehen und sie sich nicht nur einreden lassen. Überhaupt ist es kein gutes Zeichen, wenn der Therapeut Ihre Wahrnehmung zu seinen Gunsten infragestellt. Bescheidenheit ist nicht nur eine Zier, sondern ein hilfreicher Hinweis auf Behandler, die sich nicht als Götter in Weiß fühlen.
Warnsignale. Nehmen Sie grundsätzlich Reißaus, wenn ein Therapeut
… Ihnen absichtlich Angst macht.
… insbesondere, wenn er dann die Lösung für Ihre Ängste bereithält.
… seine Methode als einzig hilfreiche darstellt.
… Ihnen sein Weltbild aufdrängen will.
… Fehler nicht eingestehen kann.
… sich weigert, seine Diagnose mit geeigneten Mitteln abzusichern.
… sich zwar redlich bemüht, Sie aber mit seiner Behandlung keine nachhaltigen Veränderungen erleben.
Ich weiß, ein Therapeutenwechsel kann sehr unangenehm sein. Man muss vieles nochmal erzählen bis der oder die „Neue“ eingearbeitet ist. Dafür haben Sie die Gelegenheit zu prüfen, ob Sie Ihre Geschichte noch genauso erzählen wie bei der letzten Erstanamnese. Vielleicht hat sich Ihre Sicht auf die Dinge ja schon ein bisschen gewandelt. Schon allein das kann ein bedeutender Fortschritt sein.
Monomythische Identitätsatrophie
Gemeint ist, dass ein Patient sich übermäßig mit einem Problem identifiziert. Dann gewinnt die Geschichte, die zu dem Malheur gehört, unangemessen stark an Gewicht. So als hätte man neben dem Problem gar keine weiteren Persönlichkeitsmerkmale. Man reduziert sich auf ein einziges Merkmal. Als Beispiel führte der bekannte Psychotherapeut Arnold Retzer ein Telefonat an, in dem sich eine Frau vorstellte mit den Worten: „Ich bin ein Missbrauchsopfer.“ Das war sie vermutlich auch. Aber sie war ja noch ganz vieles mehr. Den Blick zu weiten, kann sehr heilsam sein:für die eigene Identität, für den Facettenreichtum der Persönlichkeit – der eigenen und der unserer Mitmenschen.
Bitte verurteilen Sie einem Menschen niemals aufgrund einer einzigen Handlung. Bewerten Sie grundsätzlich das Verhalten und nicht die Person. Auch ein fachlich schlechter oder persönlich unpassender Therapeut muss kein böser Mensch sein. Prüfen Sie jedoch kritisch, wem Sie Ihr Vertrauen schenken wollen. Gerade wenn Sie sich Unterstützung oder Hilfe erhoffen. Und besonders, wenn Ihr Leidensdruck hoch ist.
Zum Schluss will ich der ganzen Schwere noch etwas Leichtes und Heiteres hinzufügen. Da fällt mir ein Spruch ein, das ich als junge Frau auf dem T-Shirt trug: „Wenn Du zu Gott sprichst, bist Du fromm. Wenn Gott zu Dir spricht, ist es eine Psychose.“ Das Zitat stammt von dem Fernsehhelden der TV-Serie Dr. House, dessen kniffelige Fälle mir während meiner Heilpraktiker-Ausbildung Inspiration und Ansporn waren.
Text: Peta Weiß
Bild: pexels.com / Paola Koenig